Zunge in Madeira

Zu Unrecht aus der Mode gekommen, denn Rinderzunge ist echtes Nose-to-Tail. Und zudem reinstes feinstes Muskelfleisch, für das die traditionelle deutsche Küche viele großartige Rezepte kennt

Als ich an diesem Mittwochmorgen die siebte Hamburger Metzgerei mit leeren Händen verlasse (der achte Schlachter hat aus Personalmangel nur noch Donnerstag bis Samstag geöffnet) dämmert mir: Sie könnte schwierig werden, die Zungen-Nummer. Alle besuchten Metzger gaben mir, wahlweise mit hochgezogenen Augenbrauen oder tief gerunzelter Stirn, den gleichlautenden Rat mit auf den Weg: »Zunge? Nö. Musst du vorbestellen, Junge.«

Wichtigster Tipp: vorbestellen – und zwar mit Vorlauf

Ausverkauft war die Zunge allerdings nirgendwo, sie erfreut sich nur allgemein schrumpfender Begeisterung. Ihr Aussehen ist wenig subtil und der gute Nose-to-Tail-Gedanke hat sich hierzulande allerhöchstens als Absichtserklärung durchgesetzt. Dabei ist die Rinderzunge bestens für einen sanften Einstieg in die geheimnisvolle Welt der Innereienküche geeignet. Ist sie doch, näher betrachtet, gar nicht so richtig innen, vielmehr oft auch außerhalb der Kuh zu bewundern, wenn diese sich die Lippen leckt. Hinzu kommt, dass die Zunge prinzipiell ein Muskel ist, und zwar ein viel beschäftigter. Reines Muskelfleisch, gekocht ist sie von zartem Biss! In der Not und Versorgungsküche der alten Zeit war man weniger zimperlich und wusste um die Vorzüge der Zunge, die traditionelle deutsche Küche kennt viele großartige Rezepte. Das berühmteste ist wohl Zunge in Madeirasauce, Ausdruck deutscher Nachkriegssehnsucht nach Ferne und Exotik. Die runde Süße des teiloxidierten Weins schafft eine tiefe und samtige Sauce. Zunge wird gerne auch in Meerrettichsauce (toll!) serviert, als Ragout, sauer angemacht mit Essig und Öl – oder nach Art eines Wiener Schnitzels in Scheiben geschnitten und goldbraun ausgebacken!

Der Grund, warum Hamburgs Metzger ob dieser köstlichen Möglichkeiten die gute Zunge dennoch nur auf Bestellung vorliegen haben, ist einfach: Mittlerweile wandert das Gros in Wurstwaren, in Blutwurst, Sülzen, Schwartenmagen, wo die Zunge eher unauffälliger Texturgeber ist. Erschwerend kommt hinzu, dass jedes Rindvieh nur eine Zunge hat. Das brachte mich auf eine Idee. Ich rief auf dem Hamburger Schlachthof an. »Joa, da bist du bei uns richtig. Einfach vorbeikommen«, sprach knapp der Schlachter ins Telefon. So einfach war das dann zwar doch nicht, der Pförtner wollte eine Kundenkarte sehen oder zumindest ein Gesundheitszeugnis für Beschäftigte in Lebensmittelbetrieben. Ich zuckte mit den Schultern, gab erfolgreich den verzweifelten Künstler (Morgen Fototermin, schnief!) und nannte einen Ansprechpartner. Im Bauch des Hamburger Schlachthofs wurde es nicht besser: »Guten Tag, Stevan Paul mein Name, ich habe telefonisch eine Rinderzunge bestellt!« »Nicht bei mir.« Im Anschluss war die fehlenden Kundenkarte auch an dieser Stelle ein Ausschlusskriterium. Wie ich an diesem Tag dennoch an eine Zunge kam, ist justiziabel und ruht deshalb unter dem Deckmäntelchen der Verschwiegenheit. Wir lernen: unbedingt mit Vorlauf vorbestellen! Und wenn Sie gar eine gepökelte Rinderzunge haben wollen, dauert das locker mehr als eine Woche. Gepökelte Zunge ist ansprechender in der Farbe, schmeckt dann aber auch ein bisschen nach Kassler. Dem folgenden Zungen-Rezept mit klassischer Madeira-Einbrenn-Sauce sind Fleischbällchen zugefügt, das ist in meiner norddeutschen Familie so Brauch, die Kinder wollen ja auch was essen. Für allen anderen gilt: Wacker vorwärts, der Mut wird belohnt, der Geschmack ist unvergleichlich!

Zunge in Madeira

Für 4–6 Personen
  • 1 Rinderzunge (ca. 1,5 kg)
  • Salz
  • 100 g Schalotten
  • 40 g Butter
  • 25 g Mehl
  • 50 ml Madeira
  • 400 ml Rinderbrühe
  • 200 ml Schlagsahne
  • 2–3 feine rohe Bratwürste (optional)
  • 1 kleine Bio-Zitrone
  • dazu: Kerbel, Petersilienkartoffeln oder Reis
Zubereitungszeit: 3 ½ Stunden
  1. Die Zunge in reichlich Salzwasser 3 Stunden simmernd weichköcheln.
  2. Schalotten pellen, halbieren, in Streifen schneiden. Butter in einem Topf schmelzen, das Mehl mit einem Schneebesen einrühren. Die Schalotten zugeben und alles unter beständigem Rühren bräunen. (Daher der Name Einbrenn-Sauce, hier kommt neben der Bindung auch Farbe in die spätere Sauce.)
  3. Jetzt den Madeira und dann direkt die kalte Brühe mit einem Schneebesen unter die Einbrenne rühren, den Bratensatz lösen. Aufkochen, die Sahne zugeben und offen 10 Minuten einkochen. Optional 2–3 feine Bratwürste zu kleinen Bällchen ausdrücken und nebenbei in Salzwasser 5 Minuten leise köchelnd garen. Die Sauce mit dem Schneidstab cremig pürieren. Mit Salz, fein abgeriebener Zitronenschale oder Zesten und etwas Zitronensaft abschmecken.
  4. Die Zunge herausnehmen, in einer Schüssel unter kaltem Wasser die Haut der Zunge abziehen (wo das schwierig ist, die Haut abschneiden.) Die Zunge in Scheiben schneiden und mit Fleischbällchen auf einer vorgewärmten Platte anrichten. Die Sauce nochmals aufkochen und über die Zunge geben. Kerbel und weitere Zitronenzesten passen gut dazu. Mit Petersilienkartoffeln oder Reis servieren.

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Aus Effilee #64, Frühjahr 2023
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