Eines der hartnäckigsten Vorurteile lautet: Das englische Essen ist schrecklich, es hat die Bezeichnung Essen eigentlich nicht verdient. Es stimmt, dass eine ganze Generation von Briten durch die strenge Lebensmittelrationierung während und nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt wurde, die dort viel länger als in Deutschland bestand, für manches bis 1954. Doch es wabert auch kein Nebel mehr durch die Straßen Londons wie zu Sherlock Holmes’ Zeiten, und seit den Neunzigerjahren hat in britischen Töpfen und Pfannen ein gewaltiger Aufschwung stattgefunden. Jenseits von Jamie Oliver und Kollegen bieten unzählige Gastro-Pubs Bodenständiges bis Hochraffiniertes an. Wer in den vergangenen Jahren im Vereinigten Königreich war und immer noch behauptet, der Aufenthalt dort käme einer Zwangsdiät gleich, der sollte seine Geschmacksnerven auf ihre Tauglichkeit untersuchen lassen.
Mein englischer Mann und ich fahren aus familiären Gründen öfter auf die Insel, schließlich hat die Queen meiner Schwieger-Großmutter gerade eine handsignierte Karte zum hundertsten Geburtstag geschickt. Wenn Ihre Königliche Hoheit geistig und körperlich ebenso fit bleibt wie die alte Dame, kann Charles das Thema Regieren abhaken: Unsere Granny lebt allein und findet auch nichts Besonderes daran, dass ihr Schlafzimmer im ersten Stock liegt.
Wenn wir in England sind, besuchen wir meistens auch einen Freund an der Ostküste, in Aldeburgh. John muss noch knappe neun Jahre auf das königliche Schreiben warten, und er lebt in einem Bungalow ohne Treppe. Der Junggeselle hat sein ganzes Leben im Weinhandel gearbeitet, gehört zum illustren Kreis der Masters of Wine und hat immer noch die wunderbarsten alten Flaschen im Keller.
Bis vor einigen Jahren waren wir immer bei ihm zum Abendessen eingeladen. Da gab es dann so Feines wie frisches Crabmeat, Fasan und selbst gepflückte Himbeeren, alles eigenhändig zubereitet und unter den Augen seiner Vorfahren serviert, die uns im Esszimmer auf Ölbildern vergangener Jahrhunderte Gesellschaft leisteten.
Johns große Leidenschaft sind deutsche Rieslinge, aber gleich danach kommt Portwein. Den versteht man erst wirklich, wenn man England im Winter erlebt hat. Es ist nicht sehr kalt, selten weit unter null, aber die Feuchtigkeit kriecht einem in die Knochen. Englische Häuser sind schlecht isoliert und die Heizungen chronisch unterdimensioniert.
Port und Stilton sind ein Traumpaar wie Katharine Hepburn und Spencer Tracy. Der Blauschimmler aus der Nähe von Leicester und Nottingham ist runder im Geschmack als der salzlastige Roquefort oder der entweder süße oder ziemlich spröde Gorgonzola. Er wird nicht in Stanniol oder Folie eingewickelt, sondern darf seine eigene Rinde bilden, bröckelt ein wenig und zergeht doch cremig auf der Zunge, bestens unterstützt von Süße, Alkohol und Gerbstoff des Portweins…
STOP! Ich weiß genau, welche Schublade jetzt bei den meisten ganz weit offen steht, und die wird bitte sofort, umgehend, stante pede, ein für allemal zugemacht. Nein, John hatte den Stilton nicht in seiner ganzen zylinderförmigen Pracht auf der Anrichte stehen, und er hat keinen Portwein in ihn hineingekippt. Seinen Vorfahren wäre sonst sicher ein pikiertes We are not amused entfahren. John hat vielmehr am Morgen unseres Besuchs ein Stück Stilton von Salters Family Butchers in Aldeburgh gekauft. Es versteht sich von selbst, dass ein solcher Spitzenfleischer den besten aller Stiltons führt, nämlich Colston Bassett.
Dazu kam eine Dose mit Waterbiscuits auf den Tisch. Die knusprigen dünnen Cracker halten sich dezent zurück und überlassen die große Geschmacksbühne den zwei Hauptfiguren: beide hinreißend, charaktervoll und vor allem eigenständig, wie Tracy und Hepburn in ihren besten Filmen. Käse und Port über Tage oder Wochen zu einem gelbgrauen Brei zu vermanschen, entspräche eher einem Avatar aus beiden Schauspielern.
Und das kleine Stückchen Wahrheit in dem Vorurteil? Das ist längst überholt, es stammt aus der Zeit von Elizabeths Ururgroßmutter Victoria. Die wirtschaftlich Bessergestellten ihrer Untertanen mussten damals auf ihren Landsitzen langfristiger denken als heute: Portwein wurde kistenweise, Stilton im Ganzen geordert. Trotz fleißigen Konsums und käsefreundlich schwacher Heizung wurde das untere Drittel des acht Kilo schweren Trumms zweifellos ziemlich streng und trocken. Also wurde der Stilton ganz pragmatisch mit etwas Port aufgefrischt - womit sonst?
Wäre ein Unisex-Avatar wirklich besser als die beiden Originale, dann hätte James Cameron vielleicht nicht ohne einen Oscar nach Hause gehen müssen. Und übrigens, wenn wir schon dabei sind und Silvester quasi vor der Tür steht: Dinner for One ist in England so gut wie unbekannt. Was den meisten Deutschen als Bilderbuchbeispiel englischen Humors gilt, findet auf der Insel niemand so richtig komisch. Da trinkt man lieber selbst. Unter anderem Portwein. Mit Stilton. Getrennt serviert.
Colston Bassett Dairy
Harby Lane, Colston Bassett
Nottingham NG12 3FN
Telefon: +44 1949/811 32
www.colstonbassettdairy.com