Ein ruhiges Wohngebiet im Zentrum von Erzincan, einer ländlich wirkenden kleineren Großstadt im Hochland Ostanatoliens. Gepflegte Vorgärten, in denen Anfang April die Aprikosenbäume blühen. Bürgertum. Hier wohnt ein großer Teil der weitverzweigten Familie Gün, im obersten Stock Mustafa und Songül mit ihren drei Kindern. »Der Käse bringt gutes Geld, er ernährt so viele Menschen«, sagt Mustafa, vierzig, der in dunklen Tuchhosen, weißem Hemd und blauem Jackett auf dem Sofa sitzt.
Käse, das bedeutet in dieser Stadt, die von über dreitausend Meter aufsteigenden Bergen umringt ist: Erzincan Tulum, ein Schafskäse im Ziegenfellmantel. Mustafa Gün ist Schafhalter und Käser; im Sommer zieht er mit seiner Familie und den Schafen hinauf auf die Bergplateaus. Dann wird der Tag ganz vom Melken und dem Verarbeiten der Milch bestimmt. Hier, wo das Hochland auf die Ausläufer des Ararat und die Gebirge des Schwarzen Meers trifft, hat der Tulum Peyniri, der Sack- oder Schlauchkäse, seine nomadischen Ursprünge bewahrt und sich dank der Weitsichtigkeit von Menschen wie diesem bedachten, freundlichen Mann zu einem modernen, nachhaltigen Geschäftsmodell entwickelt. »Fabrik ohne Rauch«, nennt Mustafa das, was er aufgebaut hat.
Miray, das fünfjährige Nesthäkchen, spielt nebenan mit einer Barbiepuppe. »Wir machen uns ein bisschen Sorgen um sie«, sagt ihr Großvater Hıdır, »hier in der Stadt hat sie nie so richtig Appetit.« Die Kluft, zwischen der das Leben der Kinder spielt, ist größer als bei allen Generationen davor. Städtisch, modern und westlich auf der einen Seite, Natur und Tradition auf der anderen. Mirays ältester Bruder Mahmut geht auf eine renommierte Privatschule, er hat dafür ein Stipendium bekommen. Sein Vater Mustafa ist sichtlich stolz. Er selbst hätte auch studieren können, sich dann aber für die Schafe und den Käse entschieden, erzählt er.
Mahmut scheut sich zuerst, über Bergsommer und das Leben rund um den Käse zu sprechen, er will nicht als Hinterwäldler gelten. Erst als der Vierzehnjährige merkt, wie wichtig uns das Thema ist, wird er gesprächiger. Mustafa ist bewusst, dass seine Kinder fortgehen müssen, um den Wert ihrer eigenen Kultur zu erkennen: »Hoffentlich studieren sie. Aber dann werden sie zurückkommen, und sie werden Käse machen.«
Was Songül, neununddreißig, in dunkel geblümten Rockhosen, rotem Pullover und schwarzem Kopftuch, darüber denkt, ist nicht ganz klar. Seit sechzehn Jahren sind die beiden verheiratet, beinahe ebenso lange lebt und arbeitet sie im Sommer unter einfachsten Bedingungen. Für die Städterin nicht einfach, sie fühlt sich hier nach wie vor am wohlsten. Ihr zuliebe hat Mustafa einen Laden in Erzincan eröffnet, am Marktplatz. Vor den Geschäften stehen große Säcke mit getrockneten Früchten und Nüssen, es klingt das Hämmern der Schmiede, die Beile und anderes Werkzeug fertigen. Der Laden ist ein schmaler langer Raum. Regale voller Honig, Traubensirup, Marmelade und Oliven nehmen eine Seite ein, gegenüber steht das Kühlregal mit Käse und Butter und an der Rückwand ein Schreibtisch. Das ist das Büro des Chefs.
Als Bergkäser einen eigenen Laden zu führen ist ungewöhnlich. Und nicht nur das. Mustafa leitet ein ganzes Familienunternehmen und beschäftigt mehrere Hirten. Die Schafe liefern alles für die Fabrik: Dünger, Wolle, Fleisch, Häute und Milch, für Joghurt, Butter und Käse. Mustafa kümmert sich vor allem um die Haltung und die Käseherstellung. Das Lagern, die Reifung und den Vertrieb überlässt er seinem Cousin Süleyman Yıldırım, nur in Erzincan verkauft Mustafa selbst.
Süleyman ist studierter Ingenieur, erfand sich dann aber als Händler mit seiner Firma Efendigil neu. Erzincan Tulum ist inzwischen für ihn eine Mission, als Lebensmittel wie als Kulturerbe der Region. Er arbeitet mit einer Reihe Schafhaltern zusammen, bemüht sich um den Schutz von Produktion und Herkunft und vertreibt den Käse inzwischen weit - auch in den Feinkostladen Cankurtaran im Ägyptischen Basar in Istanbul, wo in der Theke einige der besten Käse der Türkei liegen.
1978 ist die Familie Gün aus der im Süden angrenzenden Provinz Tunceli in die Gegend von Erzincan gezogen, in das nahe gelegene kleine Dorf Oğuz. Das hatte einen einfachen Grund. Es sei eben besser für die Schafe gewesen, sagt Großvater Hıdır. Und daher auch für den Tulum, den Käse.
Er ist in seiner besten Form schmeckbare Geschichte und Landschaft. Tulum gibt es in ganz Anatolien. Divle Obruk Tulum aus dem Südens reift in tiefen Höhlen und ähnelt in der Textur einem schiefrig splitternden Farmhouse Cheddar. Kargı Tulum kommt aus dem mittleren Norden und ist cremige Eleganz. Erzincan Tulum liegt in Geschmack und Textur zwischen diesen beiden, in ihm kommt die ungeheure Artenvielfalt der Bergwelt zum Ausdruck.
Der Käse stammt aus einer Zeit, als noch ein größerer Teil der türkischen Bevölkerung als Nomaden lebte und mit Schafen und Ziegen von Weidegrund zu Weidegrund zog. Um die Milch zu konservieren, ließen sie sie gerinnen und stellten Käse her, der in die Häute geschlachteter Ziegen oder Schafe gepackt wurde: Das war nicht nur ein geeignetes Aufbewahrungsmittel, darin ließ sich der Käse auch gut transportieren. Auf diese ursprüngliche Weise wird Tulum heute kaum noch produziert, aber wenn irgendwo jemand eine gute Balance zwischen Tradition und Moderne gefunden hat, dann die Güns in Erzincan.
Wie viele andere Käsemacher bezeichnen auch sie sich als Şavak, als halb nomadisch, mit turkmenischen Wurzeln. Jeden Sommer ziehen sie aus den Gebirgsdörfern mit Schafen und Zelten hinauf auf die Bergplateaus. Jeder dieser Sommerweideplätze hat seinen eigenen Charakter, der im Käse zum Ausdruck kommt - und das ist wichtig. Der Käse muss gut sein. Er ist Grundlage ihrer Existenz und steht stets im Vordergrund ihres Handelns. »Unsere Mütter haben uns als Tulum geboren«, sagen Mustafa und Süleyman und meinen das nur zum Teil als Scherz: Sie sind auf dem Plateau geboren, auf Schaffellen, und die Mutter hat sie beim Arbeiten mit sich herumgetragen.
Es gab einen Hirten namens Munzur, die Milch aus seiner Tasche verschütt ging, wurd zu Wasser am Fuße des Berges. Blau sprudelnd, man denkt, es wär ein Wunder. Ein Heiliger ging hier vorbei, vom Hirten jedoch fehlt jede Spur. Nicht nur steckt das Leben in diesem Wasser, es ist die Quelle des Lebens.
Dieses Gedicht von Şükrü Elçin ist Ausdruck des hier vorherrschenden, von schamanistischen Elementen durchsetzten alevitischen Glaubens. Viele Aleviten sind von einer tiefen inneren Spiritualität geprägt, sehen sich als selbstbestimmter Teil der Natur, der gegenüber sie eine große Verantwortung empfinden. »Wenn ich die blühenden Aprikosenbäume sehe, dann sehe ich ihre Schönheit, denke aber vor allem daran, was ich tun muss, um diese Schönheit zu erhalten«, sagt Mustafa. Für in Tunceli und Erzincan lebende Aleviten wie ihn sind das Munzur-Gebirge und der gleichnamige Fluss ein Naturheiligtum. Gleichzeitig ist dies eine politisch aufgeheizte Region, in der es immer wieder zu Konflikten zwischen Türken und Kurden, Aleviten und Sunniten kommt. Als wir nach Oğuz fahren, steht am Eingang zum Karasu-Tal ein schwer bewaffneter Soldat, der die Ausweise kontrolliert - und dann erzählt, er schreibe Gedichte über die Schönheit dieser Landschaft.
Im Dorf ist das Zuhause der Güns ein grau verputzter Bungalow. Großmutter Halise bewirtet die Besucher mit Käse, Honig und Joghurt. Es ist eine selbstverständliche Kombination - eine Mahlzeit ohne Käse ist für die Menschen hier keine Mahlzeit. Bei dem, was Halise auf den Tisch stellt, leuchtet diese Haltung ein. Säuerlich-würzige Brocken Tulum-Käse und dickflüssiger Honig, der nach Bergen und Wiesen duftet. Der cremig-herbe Schafsjoghurt - beim Wein würden wir von mineralisch sprechen - wirkt dazu wie eine Erfrischung. Mit frisch gebackenem Fladenbrot und heißem, herbem Tee ein Festmahl, weil alles ganz einfach ist, aber in sich nicht besser sein könnte.
Nach und nach kommen Verwandte und Nachbarn dazu, darunter auch Hıdırs Bruder Kahaman, der Dorfvorsteher. Vor dem Zweiten Weltkrieg, erzählen sie, habe man Käse nur für die eigene Versorgung gemacht und ihn mit den Nachbarn gegen Honig, Walnüsse oder Aprikosen getauscht. Es sei schwierig gewesen, die Schafe über den Winter zu bringen, einen Tierarzt gab es noch nicht. Doch dann wurde Erzincan 1938 ans Eisenbahnnetz angeschlossen, wodurch die Märkte von Ankara und Istanbul näher rückten. Die Herden wuchsen allmählich, schließlich begann ein Mann, Käse aufzukaufen und damit zu handeln.
In Mustafas Laden hängen schmale Teppiche aus Schafwolle an der Wand, hier im Bungalow liegen sie als Sitzkissen auf dem Boden. Geometrische Muster in dunklen Naturfarben. Es sind die letzten, die Halise und ihre jüngere Schwester Ende der 1970er gewebt haben. Bis vor zwanzig Jahren, erzählt sie, vielleicht auch ein wenig länger, hätten sie ihre Schafwolle selbst gesäubert, gesponnen und zu Teppichen, Decken, Satteltaschen und Kleidung verarbeitet. Jetzt geht das Schaffell nach Erzincan, und Halise strickt Strümpfe aus gekaufter Wolle. Ende der Tradition? Das Scheren, Spinnen, Weben sei schwere Arbeit, sagen die Frauen. Und versteht man Mustafa richtig, ist es offenbar auch nicht entscheidend für die Fabrik. Keine Nostalgie.
Im Sommer ziehen die Güns zusammen mit sechs anderen Familien und rund zweitausend Schafen auf ihr Plateau. Ende April, Anfang Mai machen sich als Erste die Hirten mit der Herde auf den sechs Kilometer langen Weg, Mustafa und die anderen Männer folgen mit den Autos, bauen Zelte und Camp auf und holen am nächsten Tag Frauen und Kinder nach. Gut vier Monate, bis in den September, wird der Tagesrhythmus nun von den Schafen, der Milch und dem Käse bestimmt.
Hundegebell und Glockengeläut kündigen am Morgen die Schafe an. Wie eine Parade zieht die Herde langsam die Hänge hinab, begleitet von den Hirten. Melih Taha, Mahmuts jüngerer Bruder, reitet dazwischen auf einem Esel, seine kleine Schwester tollt inmitten der Tiere herum. Der Spagat zwischen Stadt und Bergen mag eine Herausforderung sein, stellt aber zugleich ein außergewöhnliches Kapital dar. Diese Kinder sind in beiden Welten zu Hause, bewegen sich in der Natur und mit den Tieren ebenso unbefangen und gekonnt wie in der Stadt. Humane Tierhaltung, respektvoller Umgang mit den natürlichen Ressourcen, die großen Zusammenhänge, das bekommen sie vorgelebt. Die schlauesten Kinder, sagt Süleyman in seiner abgehackten Art, seien die aus den Bergen.
Zuerst drängen die Tiere an die Tränken, dann sortieren die Männer mit kehligen Lockrufen die Herden der Familien in verschiedene Gatter: Zeit zum Melken. Ein kleiner offener Verschlag mit einer Plane als Schutz, zwei niedrige Hocker. Männerarbeit. Exakt dreißig Sekunden braucht Mustafa pro Tier, für maximal einen halben Liter Milch. Dieses Handmelken mag primitiv erscheinen, aber es ist auch unaufwendig und erlaubt eine enge Beobachtung jedes einzelnen Tiers.
Die Eimer mit der schäumenden Milch tragen die Männer hinüber in ein kleineres rundes Zelt, wo Songül und Halise sie durch ein Sieb und einen Stofffilter in eine mit einem geblümten Stoffbeutel ausgekleidete Blechwanne gießen, das vorbereitete Lab aus einem Plastikkanister unterrühren, einen Deckel darauflegen und dann eine gute halbe Stunde Zeit für andere Aufgaben haben.
Süleyman erklärt derweil, wie wichtig das selbsterzeugte Lab aus den Mägen der eigenen Lämmer sei. Dafür setzen die Familien einen Monat, bevor sie hinaufziehen, die mit Salz gesäuberten Labmägen einiger Lämmer nach individuellen Rezepturen mit Kräutern wie Thymian, Maulbeeren, Brot, Getreide oder Kichererbsen zum Fermentieren an. Niemand, betont er, der hinauf aufs Plateau zieht, käme auf die Idee, industrielles Kälberlab zu benutzen, das täten nur jene, die auch Kuhmilch unter die Schafsmilch mischten, und das sei vielleicht Käse, aber kein Erzincan Tulum.
Allen Schafhaltern hier oben ist bewusst, dass sie Herkunft, Machart und Ruf ihres Käses von billigen Imitationen abgrenzen müssen. Süleyman erzählt, er habe auf einer Konferenz von den Behörden nachdrücklich gefordert, die auf dem Papier seit 2002 bestehende Zertifizierung nach dem Vorbild des höhlengereiften Tulums aus Divle endlich in die Praxis umzusetzen, und das geschehe nun seit vergangenem Jahr.
Ein Erzincan Tulum muss demnach aus unbehandelter Milch von weißen Ak-Karaman-Schafen bestehen, obgleich ein kleiner Anteil der Milch von schwarzen Mor-Karaman-Schafen und etwas Ziegenmilch toleriert wird, einfach weil das die Realität der Herden widerspiegelt. Ziegen haben nicht nur die dickere Haut, in der am Ende der Käse reift, sie sind auch die Freunde der Schäfer, weil sie die Herde führen und zusammenhalten. Die Fabrik, sagt Mustafa, sei Teil der Natur, und die sei das Wichtigste. Außerdem ist das Herkunftsgebiet des Erzincan Tulum genau definiert, und es darf ausschließlich mit Lammlab gearbeitet werden.
Inzwischen ist die Milch im Kessel geronnen und fest wie Joghurt. Die Frauen schöpfen sie mit einer kleinen Schüssel in die über einen Eimer gehängten Stoffbeutel, die sie dann wiederum in einer großen Plastikwanne übereinander- und immer wieder umstapeln. Die Ausbeute ist beeindruckend, es läuft verhältnismäßig wenig Molke ab.
Am nächsten Morgen wird der frische Käse des gesamten Plateaus in einem Zelt am gegenüberliegendem Hang gesammelt. Ein Reiter kommt mit prall gefüllten, molketropfenden Satteltaschen mit dem frischen Quark der anderen Familien, deren Camp anderthalb Stunden entfernt liegt. Die Männer wechseln Schuhe und Hosen, bevor sie den frischen, nach Bergkräutern duftenden quarkartigen Käse in große Gewebesäcke füllen, die zugenäht werden und drei Tage lang übereinandergestapelt lagern. Dabei werden die Säcke immer wieder gewendet, damit die Molke gleichmäßig austritt und der Käse gut säuert. Dann wird er in eine große Wanne geschüttet und mit gut zwei Prozent Salz vermischt, indem man ihn mit den Füßen beziehungsweise Gummistiefeln tritt. »Das Salz ist unser Desinfizierungsmittel«, sagt Mustafa. Wieder werden Säcke gestopft, zugenäht und gestapelt, um den Käse weiter zu lagern: Die kühle Bergluft ist für ihn ebenso wichtig wie die Bergweiden. In monatlichen Abständen holt Süleyman die Säcke ab und bringt sie zur Weiterverarbeitung in die Stadt. Bis vor fünfzig Jahren war das anders, da wurde alles bis in den November gelagert und mit Eseln ins Dorf transportiert.
Erst im Winter, wenn der Käse in Schläuche gepresst mindestens vier Monate knapp über null Grad lagert, wird er richtig zu Erzincan Tulum. Diese Phase obliegt den Händlern. Efendigil, Süleymans Teil der Fabrik ist eine Halle im Industriegebiet von Erzincan. Fünf Mitarbeiter schaufeln die gesalzenen, trockenen Quarkbrocken aus den Säcken in den Trichter einer großen, fleischwolfartigen Apparatur und pressen sie in die Schläuche, wodurch auch die Textur gleichmäßiger und cremiger wird.
Die Schläuche sind seit Ende der 1970er Jahre zu einem beträchtlichen Teil runde Plastikkanister mit Schraubverschluss, sogenannte Bidons. Doch die traditionellen Säcke aus ungeschorenen Ziegenhäuten, mit der Halsöffnung zum Füllen, die gibt es weiterhin. In ihnen reift der Käse anders, wirkt komplexer. Im Handel wird daher unterschieden zwischen Erzincan Bidon Tulum und Erzincan Deri (Leder) Tulum. Säcke wie Kanister werden dann sorgfältig verschlossen und einige Male mit einem Messer eingestochen, damit der letzte Rest Molke austreten kann und sich keine Bittertöne bilden.
Die Ziegenhäute stammten früher von den Tieren, die man für den Fleischbedarf schlachtete, heute kommen sie auch aus anderen Regionen Anatoliens und ihre Herstellung ist ein separater Produktionszweig. Für den modernen Hausgebrauch gibt es seit Mitte der 1980er kleinere Deri Tulum, die zwischen eineinhalb und zwei Kilo wiegen. Doch die achtzig bis neunzig Kilo schweren ganzen Ziegen entwickeln den besten Geschmack.
Wenn heute in Europa vom traditionellen Käse gesprochen wird, dann ertönt meist noch im selben Atemzug die Klage über seinen schwierigen bis prekären Stand. In vielen Fällen scheint die Herstellung aus vorherrschender Sicht nicht mehr wirtschaftlich, ist des Schutzes bedürftig und Luxusprodukt und wird zugleich von industriellen Großproduzenten bedrängt, die ihn bis zur Karikatur standardisieren und banalisieren. Handgeschöpfter Rohmilch-Camembert aus der Normandie, bandagierter Farmhouse Cheddar, ein handgepflegter, lang gereifter Alpkäse aus dem Allgäu - sie aufzutreiben wird immer schwieriger. Die Welt, in der sie ursprünglich entstanden sind, existiert so nicht mehr - es ließe sich behaupten, dass das handwerkliche Käsen aus der unbehandelten Milch der eigenen Tiere einen Anachronismus darstellt und deshalb so viele Hofkäser trotz Idealismus ums Überleben kämpfen.
Im Gegensatz dazu leben Familien wie die Güns in Erzincan tatsächlich in und von dieser Landschaft, mit ihren Schafen und durch den Käse. Erzincan Tulum ist in Ankara und Istanbul gefragt und erzielt nachhaltige Preise aufgrund eines gut funktionierenden Distributionsnetzwerks ähnlich dem französischen Affineur-System. Ob Mahmut, Melih Taha und Miray Gün erkennen werden, was für ein großartiges Erbe Großeltern und Eltern ihnen in Form der Fabrik bewahrt haben? Dann werden sie es erhalten und weiterentwickeln - und damit weiterhin demonstrieren, dass diese alte Form von Käse nichts Museales hat, sondern ein nachhaltiges und somit modernes Wirtschaftsmodell darstellt. Und wer weiß, vielleicht werden auch die Teppiche eines Tages wieder Teil der Fabrik.
Meine Meinung …