Keen’s Cheddar

Seit 1899 ist die Moorhayes Farm im Besitz der Familie Keen; heute leben dort zweihundertfünfzig Kühe, deren Milch George, sein Bruder Stephen und ihre beiden Söhne zu einhundertdreißig 25 Kilogramm schweren Cheddarlaiben pro Woche verarbeiten.

Für einen Käse, der nahezu weltweit verbreitet ist, hat Cheddar unglaublich lange gebraucht, um in meiner Käsewelt den Status gegessen zu erlangen. Mit seinen Leidensgenossen Gouda und Camembert bildet er das Top-Trio der kommerziell rücksichtslos ausgebeuteten Käse der Welt, und mir kommt beileibe nicht alles in die Käsetüte, was als Cheddar im Regal liegt. Was zeichnet die echte Ware aus? Sie wird in Familienbetrieben handwerklich hergestellt, ist spannend und voller Leben, während die großen, industriell strukturierten Produzenten unter dieser Bezeichnung eher eindimensionales schnittfestes Protein liefern. Bereits 1936 beklagte sich der britische Profigourmet André Simon: »Wo Käse einfach nur als schmackhaftes, nahrhaftes und praktisches Lebensmittel gegessen wird, ohne Gedanken an Herkunft und Wesen, wird heute viel in Australasien und Kanada produzierter Käse konsumiert. Die Nomenklatur dieser billigen und sättigenden Lebensmittel seitens unserer britischen Zeitgenossen in Übersee folgt leider dem bereits vor langer Zeit von den Winzern des Empires eingeschlagenen Weg. Zusammen mit ›australischem Burgunder‹ oder ›Kap-Hermitage‹ wird uns ›kanadischer Cheddar‹ angeboten.« Simon schrieb weiter: »Der beste Cheddar ist Farmhouse Bauern-Cheddar, aber er wird in zu kleinen Mengen erzeugt, um richtig bekannt zu sein, ist meist teurer und schwierig aufzutreiben.«
Warum war und ist Cheddar so beliebt? Die Wiesen rund um das Dorf Cheddar in Somerset im Südwesten Englands, unmittelbar westlich von Bristol, sind besonders saftig, und der hier produzierte Käse war bereits im 17. und 18. Jahrhundert in London teuer und geschätzt. Dazu kam als nicht zu unterschätzender Faktor in diesen Anfangszeiten des Tourismus die Cheddar Gorge, die größte Felsschlucht des Vereinigten Königreichs, wo noch dazu 1903 Cheddar Man entdeckt wurde, ein neuntausend Jahre altes menschliches Skelett. Was war an dem Käse aus Cheddar so besonders? Er sei dicht und buttrig, schwärmte Simon, sein Geschmack voll und nussig, aber nicht scharf, und vor allem könne er reifen, würde also mit der Zeit immer besser. Was Simon nicht erwähnt, weil es ihm als Engländer sicher selbstverständlich erschien, ist ein spezieller Aspekt der Herstellung: Das Cheddaring sorgt für eine ganz besondere Struktur. Cheddar ist nicht elastisch wie Bergkäse oder Gouda, sondern bricht in blättrige große Stücke beinahe wie Schiefer, wirkt saftig und trocken zugleich.
Wie wird real Cheddar hergestellt? Das kann am besten jemand wie George Keen erklären, der Urheber meines Lieblingscheddars. Seit 1899 ist die Moorhayes Farm im Besitz seiner Familie; heute leben dort zweihundertfünfzig Kühe, deren Milch George, sein Bruder Stephen und ihre beiden Söhne zu einhundertdreißig 25 Kilogramm schweren Cheddarlaiben pro Woche verarbeiten. Die unbehandelte Milch wird mit Lab dickgelegt, auf Weizenkorngröße geschnitten und unter Rühren eine Stunde lang auf 40 °C erhitzt. Dann folgt das eigentliche Cheddaring: Dafür wird die Molke abgelassen und der Bruch, also die quietschig-elastischen weißen Babykäsekörner zusammengeschoben und in schuhkartongroße Blöcke geschnitten. Die werden während der folgenden ein bis zwei Stunden immer wieder umgestapelt, sodass viel Molke abläuft, und schließlich in einer Mühle zerkleinert, die entstehende streuselige Masse gesalzen und über Nacht in große runde Formen gepresst. Am nächsten Tag werden die jungen Käse in heißes Wasser getaucht, um die Oberfläche zu versiegeln, zur besseren Rindenbildung mit Schmalz eingerieben und zur Stabilisierung mit Tuchstreifen bandagiert. Sie verbringen eine weitere Nacht in der Presse und sind am dritten Tag bereit für die Holzregale des Reiferaums, wo sie mindestens zwölf Monate lagern und dabei regelmäßig gewendet und abgebürstet werden, damit sich das Fett gut verteilt und sich keine Milben einnisten.

Ab 1940 durfte nur noch Government Cheddar produziert werden

Simon führte damals die Knappheit guten Farmhouse Cheddars darauf zurück, dass nach dem Ersten Weltkrieg viele Milchbauern mit dem Käsen aufgehört hatten, bis dahin eine Selbstverständlichkeit. Es kam allerdings noch schlimmer, denn 1940 wurde die britische Käseproduktion in den Molkereien zentralisiert, die bis 1954 vor allem eine Einheitssorte produzieren mussten, den sogenannten Government Cheddar. Nur wenige Höfe waren danach noch motiviert, wieder eigenständig ins Cheddaring einzusteigen. 1979 schrieb der Daily Telegraph, es sei ausgesprochen schwierig, richtig gereiften Cheddar zu kaufen, da die Supermärkte nur am schnellem Umsatz mit billigem, jungem Fabrikkäse in Blockform interessiert seien.
Erst in den 1980ern setzte ein Revival ein, wurden die letzten Überreste der überlieferten Kenntnisse von engagierten Händlern wie Patrick Rance, James Aldridge und Randolph Hodgson neu belebt. Ein wiederentdeckter Leitfaden von 1917 motivierte eine kleine Gruppe handwerklicher Cheddarproduzenten dazu, sich noch intensiver mit Kulturen und Methoden auseinanderzusetzen. Das Ergebnis rechtfertigt alle Bemühungen. Auch ohne Schlucht und Skelett ist gereifter Keen’s ein großartiges Erlebnis, das mit den bunt marmorierten und aromatisierten Namensvettern in deutschen Käsetheken glücklicherweise nicht das Geringste gemeinsam hat. Let’s cheddar and get real!

George Keen, Moorhayes Farm
Verrington Lane
Wincanton, Somerset BA9 8IR
England
keenscheddar.co.uk

Text: Ursula Heinzelmann Foto: Andrea Thode
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  1. Wird für industriellen Käse (z.B. Käse bei McDonalds) auch eine Schmalzumrandung vom Schwein benutzt oder ist dies nur für speziellen Käse gültig?

    Danke im Voraus

Aus Effilee #25, Sommer 2013
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