Auf meiner Jagd nach schnittfester Milch fühle ich mich manchmal wie einer dieser Trainspotter-Typen, die auf englischen Bahnsteigen Wind und Wetter trotzen, nur um abends auf ihren Listen wieder ein Lokbaujahr abhaken zu können. So ging es mir wieder auf der Cheese in Bra im Piemont, denn eigentlich ist diese von der Slowfood-Vereinigung organisierte Käse-Messe eine ziemlich abgedrehte Idee. Alle zwei Jahre wimmelt der kleine mittelalterliche Ort von Käsemachern, -händlern und -süchtigen, die sich hier ein Septemberwochenende lang treffen und eine Art internationales Fondue bilden, dessen Fäden sich um den gesamten Erdball ziehen. Ich bin kaum angekommen, da stehe ich schon mit Alberto Farinasso in der Gran Sala, der Großen Käsehalle, für die er 138 Käse aus aller Welt ausgesucht hat, neben den üblichen Verdächtigen auch aus ungewöhnlichen Ecken wie Island, Polen, Australien, Slowenien oder Schweden.
Ein Probestück nach dem anderen lässt er sich aus den Vitrinen geben, und ich darf verkosten und muss kommentieren. Dann läuft er plötzlich weg und kommt mit einem orangegelben Käse in Form eines großen, flachen, etwas staubigen Ziegelsteins wieder. Er schnappt sich von einem der jungen Menschen hinter den Vitrinen ein Brett und Messer, schneidet den festen Käse auf, hält mir ein Stück hin und blickt mich erwartungsvoll an. Mann, sind wir Freaks oder nicht? Wie die Winzer und Weintrinker, die aus jedem Wein eine Raterunde nach Herkunft, Rebsorte und Winzer machen … Doch wie bei einer richtig spannenden Flasche bin ich auch bei diesem Käse plötzlich hellwach, alle sensorischen Antennen signalisieren Empfang, die Neurotransmitter schalten drei Gänge höher.
Das eher blasse Gelb mit einem leichten Stich ins Grau signalisiert Ziege oder Schaf. Die mürbe, aber nicht trockene oder spröde Konsistenz, die ich mit Fingern und Gaumen ertaste, deutet auf die weniger fette Ziege und eine gewisse Reife hin. Ich reibe über die Rinde und rieche an meinen Fingern - es duftet wie die Sonne auf einer Wiese. Als ich kaue, den Käse langsam und lange im Mund bewege, um möglichst viele Aromen freizusetzen und einzufangen, steigt das Bild kleiner reifer goldener Äpfel und getrockneter Aprikosen vor meinem inneren Auge auf. Schließlich reiße ich mich aus meinem Tagtraum. »Ziegenkäse, sicher vier Monate alt, keine Ahnung, woher er kommt, aber er lässt mich an ein warmes, eher trockenes Land denken, statt an saftig grüne Wiesen.« Das ist ein entscheidender Unterschied zwischen Eisenbahn-Anoraks und Käsefanatikern: Das Objekt unserer Begierde schmeckt besser.
Sicher, manchmal wäre es einfacher, Listen abzuhaken oder Fotos zu schießen, statt ständig Käse im Gepäck zu haben. Gereifter Tilsiter im Sommer im ICE ist genauso eine Nervenprobe wie der Aschekäse vom Hof Dannwisch, den ich gerade an den Zöllnern vorbei nach Bra geschmuggelt habe. Doch anders als bei den Trainspottern macht uns unsere Leidenschaft nicht einsam, ganz im Gegenteil. Denn als Alberto mir verrät, dass dieser Ziegel mit dem warm leuchtenden Aroma von Shai Seltzer aus Jerusalem stammt, möchte ich zum ersten Mal in meinem Leben am liebsten sofort in ein Flugzeug steigen und nach Israel fliegen.
Ja, Israel ist grundsätzlich ein kontroverses Thema, und Essen und Trinken sind von diesem politischen Labyrinth an Geschichte, Prinzipien und Hass natürlich nicht ausgeschlossen. Aber wie bei jedem gutem Käse denke ich auch hier an Landschaft und Menschen und Tiere, die ich kennenlernen möchte. Die politische Situation mag ein Wirrwarr an potentiellen Fragen aufwerfen - doch dieser Käse setzt sich über sie alle hinweg und spricht direkt mit mir.
Nun bin ich zwar ein Freak, aber doch nicht so verrückt, das ich sofort von dem Marktplatz in Bra zu einem Flugplatz renne, um zu den westlich von Jerusalem gelegenen, kräuterbewachsenen Hängen der judäischen Gebirgskette zu reisen, an denen Shai Seltzers Ziegen weiden - leider. Doch ich hole später virtuell ein paar Erkundigungen ein. Eine Freundin aus Tel Aviv schreibt mir, es gebe immer mehr solche Hofkäsereien in Israel. Meine Kenntnisse über die jüdischen Ernährungsgebote sind bescheiden, aber dass die Vermischung von Fleisch und Milchprodukten nicht koscher ist, weiß ich. Meine Freundin erklärt mir, die neuen Käse seien vor allem am Freitagmittag beliebt, da gebe es oft eine leichtere milchige Mahlzeit vor dem üppigeren fleischigen Freitagabend, dem Auftakt des Sabbats. Und wie sieht es mit Lab aus, das aus dem vierten Magen eines noch säugenden Kalbs, Lamms oder Zicklein stammt, also fleischig ist? Käse sei koscher, lerne ich, wenn die Milch von einem koscheren Tier stamme, und die Talmud-Gesetze erlaubten einen Zusatz von Lab eines ebenfalls koscher geschlachteten Tieres im Verhältnis bis zu 1:60.
Dann erfahre ich von Shai Seltzer selbst, dass er seine Käse mit mikrobiellem, also nicht-tierischem Lab erzeugt. Sie reifen in einer Naturhöhle in den Kalkfelsen. Mein Käse war fünf Monate alt und heißt Raaya, hebräisch für Freund. Den auf den Fotos seiner Homepage urig wirkenden Mann mit dem langen weißen Bart habe ich auf der Cheese leider knapp verpasst, aber auch er hatte seine Käse, die er sonst ausschließlich auf dem Hof verkauft, im Koffer nach Bra geschmuggelt. Ja, wir sind Freaks, aber genau das verbindet uns, über alle absurden Grenzen hinweg. Ich werde Shai Seltzer und seine Ziegen irgendwann besuchen.