Wie der für unsere Augen etwas urige Kerl zu mir fand, oder besser gesagt ich zu ihm, das ist eine längere Geschichte, weil selbst bei geplanter Recherche sich einem die spannendsten Dinge meist ganz unverhofft offenbaren. Also vorne anfangen, nämlich in Griechenland, wo die Story um diesen anatolischen Käse auf der ägäischen Insel Kea beginnt. Ich war dort Anfang Juni, um an einem Koch-Urlaub teilzunehmen. Denn erstens war ich noch nie in Griechenland, zweitens habe ich schon lange den Verdacht, dass die griechische Küche hierzulande extrem unterschätzt wird (stimmt), und drittens lockte mich einfach die Vorstellung, Essen, Trinken und Kochen ein paar Luxustage lang in diese Bilderbuch-Mittelmeerkulisse zu verlagern. Aglaia Kremezi, Fotografin und Kochbuchautorin, bietet in ihrem Landhaus auf Kea solche Auszeiten an, bei denen sich alles um das dreht, was auf den Inseln geerntet, gekocht, gegessen und getrunken wird. Auch Käse: Am letzten Tag präsentierte uns ihr Mann eine Auswahl von achtzehn verschiedenen handwerklich erzeugten Käsen. Anthotyro aus Naxos, aus gereifter Schaf-Ziegenmolke … Dank, ihr Käse-Götter!
Hatte alles nur einen Nachteil: Gegessen wurden diese Käse, aber bis vor die Effilee-Kamera nach Hamburg, das war logistisch unmöglich, weil ich anschließend nicht zurück nach Berlin, sondern weiter nach Istanbul reiste. So gut meinten es die Götter dann eben doch nicht. Doch da hatte ich nicht mit jenen gerechnet, die für die großartige verrückte Stadt am Bosporus zuständig sind, die mich immer ein winziges bisschen an Indien erinnert. Dort nahm sich wie üblich Aylin Öney Tan meiner an, bestens vernetzte Food-Expertin und -Kolumnistin. Bei der sich sofort der kulinarische Patriotismus regte, als die griechische Käse-Erleuchtung bereits am Flughafen aus mir sprudelte. Wenig später standen wir im Gewürzbasar bei dem Feinkosthändler Cankurtaran Gıda, in dessen Theke die besten Käse der Türkei liegen. Einen nach dem anderen bekam ich erklärt und als Probe gereicht. Unter anderem auch einige etwas säuerliche Brocken: »Tulum«, sagte Aylin, »das heißt Schlauch und bezeichnet eine der traditionellsten Käsearten Anatoliens, bei der gesalzener ausgepresster Quark in der gegerbten, zum Schlauch zusammengenähten Haut einer Ziege reift.« Urig, etwas salzig, aber sehr ausdruckstark. »Dieser kommt aus Erzincan ganz im Osten, bei Elâzıg˘.« Dort war ich schon, in der rauen Landschaft wächst mein türkischer Lieblingsrotwein, Öküzgözü, und den konnte ich mir zu diesem Käse bestens vorstellen. Der beste Tulum, der käme aus Divle, etwa hundert Kilometer Luftlinie von der Küste landeinwärts Richtung Konya, der Stadt der tanzenden Derwische. Der sei ganz anders als dieser und werde zur Reifung in Höhlen gelagert. Ihn aufzutreiben sei zu dieser Jahreszeit allerdings schwierig … Na, ich hatte meinen Anteil göttlicher Fürsorge auf dieser Reise schließlich schon reichlich ausgeschöpft, gib dich zufrieden, Heinzelcheese!
Doch wenige Stunden später saß ich mit den Powerfrauen Neve Biber und Berrin Bal Onur von Antre Gourmet vor einer großen Käseplatte. Auf der lag unter anderem ein Tulum aus Kargı, auf der anderen Seite Anatoliens zum Schwarzmeer hin gelegen. Er wirkte viel frischer, voller konzentrierter Schafsmilchsüße als Gegenpol zur Säure, das weiße Fell außen kurzgeschoren. »Der ist von diesem Jahr«, erklärten mir die beiden, »traditionell wird Tulum im April und Mai gemacht und dann bis zum Oktober gelagert.« Und dann: Tulum aus Divle! Wiederum ganz anders, ein fester, aber nicht harter Käse, der mich in der Konsistenz an Cheddar der besten Höfe in Somerset erinnerte. Die splittrig-bröckelnde Struktur entsteht, weil der gesalzene Quark wiederholt in Stoffbeuteln gepresst und immer wieder zerkleinert wird, bevor er schließlich im Fell reift. Offensichtlich war dieser Käse über ein Jahr alt, es gab Aromen von Haselnussbutter bis zu karamellisiertem Knoblauch zu entdecken, der Nachhall hielt lange und dicht an … Ihr Götter, Dank!
An der dicken gelben runden Scheibe war kein Fell mehr, aber Berrin zeigte mir Fotos, wie die rugbyballgroßen Käse in bis zu fünfzig Meter tiefen Höhlenschächten des Kalksteinplateaus gelagert werden. Dort bildet sich durch die Luftfeuchtigkeit erst weißer, dann blauer und schließlich rötlicher Schimmel und färbt das Fell; allerdings nur von außen, denn bei Höhle und Schafsmilch hört der oft zu lesende Vergleich mit französischem Roquefort auch schon auf, damit hat Tulum wirklich überhaupt nichts zu tun. Im Oktober, spätestens November wird es in den im Sommer knapp über null Grad kalten Höhlen zu warm, Tieren und Menschen auf den hoch gelegenen Weiden zu kalt, dann ziehen sie (oder zogen sie traditionell zumindest) weiter an Winterstandorte, mitsamt reisetechnisch perfektem Käsevorrat.
Reisetechnisch perfekt, jawohl, das war mein Käse. Auf die Frage, wo ich bis zu meiner Abreise am folgenden Tag einen solchen Höhlenvertreter erstehen könnte, schlug mir allerdings Stille entgegen. Doch überraschten mich die Käse-Götter ein drittes Mal: Aylin und ich gingen abends auf ein Glas Wein zu einem Empfang ins superschicke Dachrestaurant Ferahfeza im Karaköy-Viertel, wo die quirlige Gamze Ineceli (früher Performancetänzerin in New York!) für das gastronomische Konzept zuständig ist. Sie überraschte mich nicht nur mit meinem alten Schwarm Öküzgözü, sondern servierte uns dazu auch - Tulum aus Divle. Perfekte Kombo. Um es kurz zu machen: Bei meiner Abreise erwartete mich diese rothaarige Käse-Schönheit an der Rezeption. Oh, ihr Götter!