Wir stehen in dem Hinterhof einer ehemaligen Fisch-Feinkostfabrik an der Grenze zwischen einem Wohn- und einem Industriegebiet und versuchen, uns zu orientieren. Hier haben sich in den letzten Jahren einige Studenten- und Künstler-WGs angesiedelt, doch Eingänge und Namensschilder springen einem nicht direkt ins Gesicht. Nachdem wir uns ein paarmal im Kreis gedreht haben, stehen wir vor der richtigen Tür: Curie Kure wohnt mit vier Mitbewohnern in einem geräumigen Loft, dessen Mittelpunkt ein großes, lichtdurchflutetes Wohnzimmer ist, das nahtlos in das Esszimmer und die Küche übergeht. »Das ist toll, man kann hier zu zehnt spontan essen«, sagt sie, während sie uns an den Tisch führt. »Danach sieht es aber natürlich auch entsprechend aus.«
»Normalerweise essen Japaner heutzutage auch nur ein kleines schnelles Frühstück. Was ich hier mache, ist das totale Mutterverwöhnungsprogramm.« Curie verschwindet in einer Ecke der Küche und wäscht den Reis in einem Sieb, bevor sie ihn in den Reiskocher gibt. In der Küche liegen etwas Lachs, Tofu, Frühlingszwiebeln, Pasten und Pulver sowie einige nicht näher identifizierbare Zutaten, die eingeschweißt sind. Und das sagenumwobene, berüchtigte Natto, vergorene Sojabohnen.
»Frühstück heißt auf Japanisch Asa- Gohan. Das Wort besteht aus zwei Schriftzeichen, dem für Morgen und dem für Reis bzw. Mahlzeit - die Wörter haben beide das gleiche Zeichen. Man kann also Morgenreis oder Morgenmahlzeit sagen.« Curies Vater ist Taiwanese, ihre Mutter Japanerin, sie haben sich in Deutschland kennengelernt. Ihre Mutter arbeitet als Chinesischlehrerin in Deutschland, ihr Vater ist Naturwissenschaftler und lebt längst wieder in Taiwan. »Kochen hab ich von meiner Mutter gelernt. Mein Vater kann bestenfalls Spiegeleier braten.«
Curie setzt auf dem alten Gasherd das Wasser für die Misosuppe auf. »Das Natto«, bereitet sie uns vor, »riecht schon ziemlich ungewöhnlich. Das sind vergorene Sojabohnen, eine ziemlich schleimige Masse. Im japanischen Fernsehen habe ich mal eine Sendung gesehen, in der versucht wurde, möglichst lange Natto-Fäden zu ziehen. Die längsten waren über zehn Meter lang.« Während der Reis kocht, schneidet Curie den Lachs in Streifen, wäscht ihn ab und entschuppt ihn anschließend. »Ach Mist, ich hätte ihn vor dem Schneiden entschuppen sollen, das wäre entschieden einfacher gewesen.«
In das kochende Wasser kommt jetzt die Misopaste und getrocknete Fischbrühe, Dashi. Dazu gibt sie Wakame-Algen und ein paar Enoki-Pilze, die aussehen wie Psylos, die bekannten Drogenpilze. »Mit den Algen muss man vorsichtig sein, wenn man die nicht kennt. Die getrockneten Algen werden viel größer, wenn sie sich vollsaugen. Da verschätzt man sich leicht. Wenn man die Suppe richtig kochen will, nimmt man die dicken Kombu-Algen und kocht Fisch mit. Aber ich glaube, keine japanische Hausfrau macht das heute noch so. In der Suppe kannst Du eigentlich alles beliebig kombinieren, du kannst alles reintun oder weglassen.« Sie lässt sie kurz aufkochen, nimmt sie von der Flamme und lässt sie im Topf weiterziehen, während sie die Lachsstreifen mehliert, salzt und in die heiße Pfanne legt.
Curie schneidet die Frühlingszwiebeln und richtet den Tofu mit Sojasauce, Ingwer und den Zwiebeln an. Dann schält sie eine lange gelbe Rolle aus einer Plastikfolie. »Das ist in Essig eingelegter Rettich, Takuan.« Sie erzählt: »Meine Mutter hat viel japanisch gekocht, aber auch viel europäisch. Ich dachte immer, dass Pizza und Spaghetti so schmecken, wie sie das gemacht hat, und habe erst viel später gemerkt, dass sie asiatisierte Versionen zubereitet hat. Viel süßer und so.«
Auf dem Tisch steht für jeden Gast ein Schälchen Misosuppe, eine Schale Reis und ein Teller. In der Mitte des Tisches sind der Lachs, Tofu und Rettich angerichtet, so dass sich jeder bedienen kann. Auf einem Teller liegen außerdem noch kleine Nori-Blättchen. »Das ist getrockneter koreanischer Seetang. Es gibt auch japanischen, aber der koreanische ist knuspriger.« Und er schmeckt hervorragend zum Reis. Curie richtet für jeden ein wenig Natto an. »Das isst auch in Japan nicht jeder«, sagt sie, während sie Senf, Sojasauce und Eigelb unter die eh schon recht schleimig wirkende Masse rührt. »Das wird vor allem in der Gegend um Osaka gegessen. Und ich glaube, ich richte auch ein Schälchen ohne Ei an, dann könnt ihr beides probieren.« Der Geschmack des Natto ist für europäische Gaumen ungewöhnlich, aber nicht wirklich schlimm. Er ist herzhaft, hat dabei aber etwas von Karamell.
Misosuppe und Reis bilden die Grundlage für ein Frühstück, dass einen entspannt in den Tag kommen lässt. Der Magen wird sanft gefüllt, aber nicht überfordert. Der säuerlich scharfe eingelegte Rettich gibt eine ungewohnte, aber erfrischende Note, während der gebratene Lachs auch dem wenig abenteuerlustigen Europäer einen vertrauten geschmacklichen Ankerpunkt bietet.
Körperlich und geistig gestärkt gebe ich meiner Neugier nach und frage nach dem Ursprung ihres ungewöhnlichen Vornamens. »Oh, meine Mutter war tatsächlich ein großer Fan von Marie Curie. Die Standesbeamtin wollte das zunächst nicht als Vornamen akzeptieren. Aber meine Mutter hat ihr erzählt, dass Curie in Japan ein ganz normaler Vorname ist. Das ist natürlich Blödsinn. Es gibt ein Wort, das ähnlich klingt, aber das heißt Gurke.«
Asa Gohan (Japanisches Frühstück)
Suppe
- 1 l Wasser
- 1 großzügiger EL Miso-Paste
- etwas Dashi Pulver
- 1 EL Wakame-Algen
- Enoki-Pilze
Reis
- 1 Tasse Sushi-Reis
- 2 Tassen Wasser
Sonstiges
- Ingwer
- Frühlingszwiebeln
- 1 Paket Tofu
- 4 etwa 2 cm dicke Streifen Lachsfilet
- etwas Mehl, Salz
- Sojasauce
- Tsuyu (japanische Fisch-Sojasauce)
- Senf
- Nori-Blätter
- eingelegter Takuan-Rettich
- 4 Päckchen Natto
- evtl. etwas Ei
- Wasser erhitzen, Miso-Paste und Dashi-Pulver einrühren. Wakame-Algen und Enoki-Pilze hinzugeben, kurz aufkochen, von der Flamme nehmen und im Topf ziehen lassen.
- Reis wie gewohnt mit der doppelten Menge Wasser oder im Reiskocher kochen.
- Tofu mit Ingwer, Sojasauce und kleingeschnittenen Frühlingszwiebeln garnieren.
- Lachs in Mehl und Salz wenden und braten.
- Takuan-Rettich in Scheiben schneiden. Natto mit etwas Senf und Tsuyu mischen (die liegt dem in Asialäden verkauften Natto meist bei). Wer mag, kann noch ein Eigelb unterrühren.
- Alles einzeln anrichten, die Nori-Blätter nicht vergessen, und servieren.