Der Schlehdorn ist ein außergewöhnlicher Wein. Er ist als Tafelwein deklariert, eine Prüfung zum Qualitätswein fand gar nicht erst statt. Dieser einfache Tafelwein mit dem Zusatz Rhein Riesling spaltet die Gemeinde aufgeschlossener Weinfreunde und erhitzt die Gemüter. »Das kannst du unmöglich ernst meinen!«, raunt mir ein Kollege zu, als ich erzähle, was ich Unglaubliches probiert habe. Er schenkt noch einen Schluck Weißwein nach. Wir sind in Wiesbaden auf einer Weinprobe beim Mittag beiläufig auf das Thema gekommen. »Untrinkbar!«, ist der Kommentar eines anderen Kollegen. Ich komme mir vor wie McMurphy in Einer flog übers Kuckucksnest: Alle anderen sind verrückt, nur ich nicht. Schlehdorn gehört nach dem deutschem Weinrecht zur untersten Qualitätsstufe und drängt trotzdem in die oberste Liga zu den Spitzenweinen. Darf dieser Wein das überhaupt?
Die Diskussion mit den Kollegen spitzt sich zu: »Atypische Stilistik« und »keine Rebsortenreinheit« sind völlig berechtigte Einwände. Hinzu kommt der Preis: Für den Gegenwert einer Flasche bekommt man anderswo eine Mahlzeit für zwei. Dabei sind es schlicht die verfügbaren Mengen, die den Preis und somit auch die Nachfrage bestimmen. Teuer heißt eben oft auch Haben-wollen, sei es aus Neugier oder Prestige. Stehen solche Weine auf Verkostungen an, ist das Gedränge um den Stand entsprechend.
Dabei ist diese Flasche keine leichte Angelegenheit. Das erste Mal verkostet auf dem Weingut im Advent 2008, ließ der Wein sich, kurz zuvor abgefüllt, nicht viel entlocken. Das war eher die Skizze eines Weins. Der direkte Vergleich mit dem Jahrgang 2006 zeigte vage eine Richtung, in die es gehen sollte. Ein paar Kilometer rheinaufwärts in meiner Küche in Köln vier Monate später - das ist keine wirklich lange Zeit für einen solchen Wein: Den Schraubverschluss flugs aufgedreht und ein Glas eingeschenkt, bevor der Wein in die Karaffe kommt. Lass diesen Schlehdorn ohne Fehler sein, es gibt davon nur 600 Liter!
Dieser Rhein Riesling ist nichts, was man einfach so weggurgelt. Ehrlich gesagt ist er ziemlich anstrengend. Fordernd wäre das falsche Wort, denn der Wein scheint nichts zu wollen. Es gibt ihn einfach. Wie es scheint, ist es Geduld, die hier an allererster Stelle gefordert ist. Man stürzt sich schließlich auch nicht auf eine Flasche Château Lafite, sobald die Subskription ausgeliefert wird, und erwartet ernsthaft Trinkreife.
Ich muss an den Indianer Chief Bromden aus dem Kuckucksnest denken. Ziemlich groß, ziemlich leise. Die meiste Zeit des Films tut er nicht viel. Und nun sitze ich da, neben dem Indianer, und er wirft einen großen Schatten auf mich. Ein goldenes Gelb mit hellen, bernsteinfarbenen Reflexen in der Karaffe. Die ersten zwei Schluck sind sperrig. Ein massiver Wein, fest, verschlossen, von unglaublicher Mineralität. Salzig? Ja, salzig! Kräuter und Lorbeerblatt sind auch zu erkennen. Die Schlieren am Glasrand sprechen für Extraktreichtum. Und das alles zuckerfrei, der Wein ist knochentrocken. Charmante, rieslingtypische Aromen sucht man hier vergebens. Im Mund ist er sehr fest, fast ölig, gestützt von einer strammen Säure. Von Frucht und Süße keine Spur. Will man das trinken?
Der Indianer sitzt bloß da, er schweigt. Und wirft Schatten. Der Wein ist unglaublich lang, mein Mund tut fast weh, er ist wie elektrisiert. Als Kind habe ich an 9-Volt-Blockbatterien geleckt. Jetzt habe ich eine Art 9-Volt-light-Gefühl im Mund. Zwei Stunden später präsentiert er sich ein wenig offener, doch weiterhin sehr druckvoll am Gaumen, fast gewalttätig.
Der Wein ist in einer kleinen Parzelle der Spitzenlage St. Nikolaus in Oestrich-Mittelheim gewachsen. Die Rebanlagen sind rund achtzig Jahre alt und gehörten zu einem alten Privatgrundstück. So haben sie die Flurbereinigung in den fünfziger und sechziger Jahren überlebt. Solch alte Stöcke bringen kleine, sehr aromatische Beeren hervor, die dort von Hand verlesen werden. Der Wein ist spontan im traditionellen 600-Liter-Holzfass vergoren, das heißt ohne Zugabe von fremden Hefen. Während der sechswöchigen Gärung werden neben den Aromen aus den Beeren auch viele Gerbstoffe aus den Stielen gelöst. Das macht ihn stilistisch dem Rotwein ähnlich. Im November ist er ungefiltert auf die Flasche gefüllt worden.
Ich stelle den Wein beiseite. Am nächsten Tag schaue ich, ob er sich etwas mehr entlocken lässt. Er ist immer noch verschlossen, aber ein klein wenig zugänglicher. Der Indianer schaut auf mich hinunter. Fruchtgeschmack, grummelt er.
Viel zu jung ist er, dieser Tafelwein, um ihn jetzt zu trinken. Noch kein fertiger Film, eher eine Filmidee nach dem Roman von Ken Kesey. Und doch gibt er einen Hinweis auf das, was uns in Zukunft hier erwartet. Es braucht wieder einmal Geduld. Es sei also empfohlen, sich zurückzulehnen, etwas Popcorn zu holen und den Film zu Ende zu schauen. Achtung: Überlänge! Am Ende steht der Indianer auf, reißt das Waschbecken aus dem Boden, wirft es durchs Fenster und haut ab. Der Vorhang fällt. Chapeau! Niemand fragte übrigens, ob er das durfte.
Meine Meinung …