Dollases Karriere fällt nicht zufällig mit dem Siegeszug der sogenannten Molekularküche zusammen. Anfang der Neunzigerjahre begannen erstmals Forscher wie der Physiker Nicholas Kurti und der französische Chemiker Hervé This, sich mit den wissenschaftlichen Grundlagen der Küche auseinanderzusetzen. Köche wie Ferran Adrià vom elBulli und Heston Blumenthal vom Fat Duck nahmen diese Impulse auf und sorgten für Furore in der kulinarischen Welt. Bekannt wurde Molecular Gastronomy hauptsächlich durch Schäumchen und platzende Sphären, viel wichtiger jedoch war die Weiterentwicklung der Kochkunst auf der Basis eines analytischen und wissenschaftlich fundierten Ansatzes.
Im Kielwasser dieser Entwicklung hat Dollase ein mittelgroßes theoretisches Gebäude der Kochkunst aufgebaut. Eines der zentralen Werke ist die Geschmacksschule, ein Buch mit Gerichten, die auf einen Löffel passen und anhand derer die Beobachtung des geschmacklichen Geschehens im Mund erlernt werden soll. Zu diesem Zweck zeichnet Dollase Geschmackskurven, die den zeitlichen Verlauf der Wahrnehmung illustrieren. Das ähnelt den Hüllkurven, mit denen der Klangverlauf bei Synthesizern beschrieben wird, auch von den Begrifflichkeiten her (Attack, Sustain, Decay). Der Selbstversuch mit dem Buch ist durchaus interessant und lehrreich, aber zieht man wirklich mehr Erkenntnis daraus, als jene von Paul Bocuse, dass jedes Gericht ein élément craquant benötigt?
Problematisch ist das andere Hauptwerk mit dem Titel Kulinarische Intelligenz. Zum einen bezieht Dollase sich hier auf einen diffusen und letztlich unhaltbaren Intelligenzbegriff. Nur weil Intelligenz schwer zu definieren ist, heißt das nicht, dass man sich den Begriff hinbiegen kann, wie man ihn gerade braucht. So hat die Frage, ob man weiß, dass eine Tomatensuppe besser mit Fond statt mit Brühwürfeln zubereitet wird, nicht mit Intelligenz, sondern mit Erfahrung zu tun. In diesem Buch steht Richtiges neben viel Banalem, und leider immer mit dem Anspruch der Allgemeingültigkeit und Unfehlbarkeit. Im Grunde ist es eine Anleitung zum Thema Wie werde ich Jürgen Dollase.
Als Gastronomiekritiker ist Dollase bekannt für sehr präzise Beschreibungen der Gerichte, auch kritische Anmerkungen sind stets sachlich. Das ist viel wert in einem Genre, das bis heute stark von persönlichen Befindlichkeiten und reinen Meinungsäußerungen geprägt ist. So kann er auch zum Beispiel eine Autobahnraststätte, ein McDonald’s- oder ein Burger-King-Restaurant besprechen, ohne in Polemik zu verfallen.
Doch kein Kritiker ist neutral. Dollase schätzt den ausgetüftelten, komplexen Teller, den der gebildete Esser rezipiert, indem er aus den verschiedenen Elementen Akkorde zusammenstellt. Da Dollase selten Zweifel plagen, wird diese Art zu kochen zur einzig zeitgemäßen stilisiert. Das Lustvolle, Leidenschaftliche und Unvernünftige beim Essen und beim Kochen bleibt auf der Strecke. Stilistisch nutzt Dollase eine beliebte Technik des intellektuellen Aufsatzes intensiv, nämlich jene, eigene Vermutungen von früher als Belege für die jeweils neuen Thesen heranzuziehen. Dazu kommt eine, selbst für das Feuilleton der FAZ bemerkenswerte Nutzung von Fremdwörtern, die bekanntlich für Journalisten das Gleiche sind wie für den Koch das Trüffelöl.
Der Gestaltungswille des Kritikers wird besonders deutlich in der FAZ Gourmetvision. Hier erarbeitet Dollase gemeinsam mit einem Koch ein besonderes visionäres Menü, das dann für einige Wochen parallel zum regulären Menü angeboten wird. Das Konzept ist erfolgreich, hinter vorgehaltenener Hand wird erzählt, dass die Gourmetvision für 350 Couverts zusätzlich gut ist, das sind über den Daumen fünfzig- bis siebzigtausend Euro Umsatz. Das ist natürlich schon eine Hausnummer. Entsprechend groß ist die Bereitschaft vieler Köche, sich zu verbiegen. Am Ende führt das aber zu einer Art Einheitsküche auf hohem Niveau. Und, nachdem das Strohfeuer der Gourmetvision abgebrannt ist, zu hochdekorierten Restaurants mit leeren Tischen.
Aus Dollases Sicht ist das allerdings Schuld des Publikums, das mehrheitlich aus Redundanzessern besteht und schlicht nicht gebildet (bzw. kulinarisch intelligent) genug ist. Wie auch Köche, die seinen Vorgaben nicht folgen wollen, einfach nicht zugehört haben: »In einem Interview mit dem amerikanischen Starkoch Thomas Keller sprach ich diesen einmal auf gewisse sensorische Unstimmigkeiten in seinen Gerichten an. Er schien das Problem noch nicht einmal richtig zu verstehen«, schreibt Dollase in einem Aufsatz von 2009. Es wäre zu wünschen, dass auch von den deutschen Köchen der eine oder andere mit mehr Unverständnis reagiert.
Buchtipps
Geschmacksschule (Tre Torri 2005), Kulinarische Intelligenz (Tre Torri 2006)
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