Ein Wiener Weltenbummler, den es Ende der 1970er nach Berlin verschlägt, wo alles so viel beweglicher und im Werden ist: »Leben ist immer Aufbruch, Aufmerksamkeit und Lernen, nicht Stillstand.« Das Leben des Wilhelm Andraschko, von allen nur der Willy genannt, ist alles andere als Stillstand. Wien sei so »gesettled«, klagt der 55-Jährige, dort neue Formate einzuführen, sei quasi unmöglich. Berlin biete immer neue Felder, sei immer unfertig. Doch er wäre nicht Wiener, wenn er nicht gleich auch die Nachteile Berlins anprangern würde. In Berlin erwarte man nie, auf bewährte Formate zurückzufallen, sondern reite täglich neu auf der Schaumkrone der Trendwelle, ohne verlässlich Bleibendes zu hinterlassen. Nahezu unmöglich sei es hier, positive Ikonen wie ein Wiener Kaffeehaus oder eine italienische Kaffeebar zu installieren.
Das ist natürlich - wiederum ganz dem Wiener Ursprung entsprechend - gehörige Tiefstapelei. Andraschko hat das 1978 von Uschi Bachauer gegründete Café Einstein in Berlin als Mitbesitzer und -betreiber geprägt wie kein Zweiter. Und obgleich er sich bereits vor sieben Jahren aus dem Einstein zurückgezogen hat, lassen ihn Film und Fernsehen dort immer wieder mit Zeitung und Mélange posieren. Genaue Vorstellungen zum Thema Kaffeehaus hat er, keine Frage. Als das Gespräch aufs Hawelka kommt, ein Heiligtum unter den Wiener Adressen und offensichtlich auch für Andraschko ein Orientierungspunkt, graust es ihn vor der »internationalen Versandhaus-Plastikwäsche«, die da kunterbunt und scheußlich umherliege. Als Nicht-Cafétier geht einem erst nach einigen Momenten auf, dass er wohl Mäntel und Jacken der touristischen Hawelka-Besucher meinen wird. Der weiche Wiener Singsang lässt die Bemerkung allerdings etwas liebenswerter klingen, als sie sich liest. Man müsse sich Respekt verschaffen, sonst kippten Ikonen schnell zur Staffage ab, werde aus dem Kaffeehaus eine Konditorei. Idealerweise fungiere ein Kaffeehaus wie ein Salon, sei ein Zugangsort für Fremde.
Das Einstein war zu Andraschko-Zeiten alles andere als eine Konditorei. Ende der 1970er war das Café in der alten Villa Roßmann bei Weitem nicht so schick und aufgeputzt wie heute, sondern ein kultureller Freiraum. Ein Ort, an dem man als Schüler des benachbarten Französischen Gymnasiums seine Freistunden verbringen konnte, wo ein freier Geist herrschte und bis Ende der 1980er allwöchentlich Konzerte mit der Avantgarde der Neue-Musik-Szene stattfanden.
Als sei ihm der Kaffeehausbetrieb nicht mehr interessant genug gewesen, begann Andraschko sich Anfang der 1990er mit dem Kaffeerösten zu beschäftigen. Die italienische Tradition war ihm bereits vertraut, doch jetzt lernte er die amerikanische Specialty Coffee Association kennen und knüpfte Kontakte in der damals jungen Szene dort. Er schaute, und fragte, und probierte, Methoden, Bohnen, Maschinen, Händler. Und stellte schließlich im Vorraum des Café Einstein einen Röster auf, aus dessen Betrieb sich eine gestandene Kaffeerösterei entwickelte, die heute als Einstein Kaffee Rösterei in einem alten Charlottenburger Fabrikgebäude residiert. Beinahe nebenbei gründete er außerdem eine Familie - der Willy ohne die Elisabeth ist heute quasi undenkbar - und eröffnete 1996 zusammen mit Geschäftspartner Gerald Uhlig das Café Einstein Unter den Linden. Doch auch damit setzte er sich nicht zur Ruhe (»Der Stillstand birgt das Scheitern in sich!«). An der amerikanischen Westküste hatte er die Café-Form kennengelernt, die seine Vorstellung von Italianità - ein schneller, aber guter Kaffee an der Theke bestellt und bezahlt - auch für Nicht-Italiener erlebbar machte. Im August 1999 eröffneten Einstein Coffeeshops in der Friedrichstraße und am Hackeschen Markt. Das Angebot war so klar und einfach wie in Amerika, ohne Kellner »mit blöden Sprüchen« und ohne Hemmschwellen, doch die Einrichtung elegant-europäisch mit Marmor, dunklem Holz und weißen Porzellanleuchten. »Das war eine irrsinnige Aufbruchzeit, mit ungeheurer Bewegung, alles hat funktioniert.« 25 Shops sollten es werden in Berlin, 180 deutschland-, ja, europaweit. So schwer vorstellbar es heute scheint: In Deutschland kam Andraschko Starbucks beinahe drei Jahre zuvor.
Doch dann platzte die Dotcom-Blase, alles fuhr »von der Autobahn aufs Schotterbett«, und nach nur drei Jahren musste Andraschko mit den Coffeeshops in Ermangelung von Investorengeld Insolvenz anmelden. Scheitern trotz Bewegung? Der Wiener sieht das anders: »Man macht im Leben eh alles richtig, sonst müsste man ja alles in Frage stellen.« Für ihn war alles Vorherige wichtig, um zum heutigen Lebensinhalt zu finden: Kaffee kaufen, rösten und verkaufen. Arabica, Spitzenqualität, in knallrote Tüten verpackt. Mit der Gastronomie hat er endgültig abgeschlossen. »Jetzt läuft alles in so schön geradlinigen Einzelschritten, ich wünschte nur, ich hätte das a bisserl eher erkannt.« Er reist zu den Ursprüngen seiner Kaffeebohnen, möchte irgendwann einmal alle Produzenten persönlich kennen und bevorzugt trotzdem in der Tasse die Mischung, »nur so erreicht man diese ungeheure Komplexität, die so glücklich macht«. Wenn das jetzt untypisch nach Angekommensein und gesettled klingt, ob auf Wienerisch oder Berlinerisch - Andraschko wäre nicht der Willy, wenn er nicht nebenbei Coffeeshops als Franchise-Unternehmen betreute und schon wieder an einem neuen Projekt bastelte: ein virtuelles Kaffeehaus namens Moka Consorten. Kein Scheitern, sondern stets ein Werden.