Fritz Wieninger 2009 Nußberg Alte Reben

New York ist großartig, New York ist inspirierend, aber New York kann auch gewaltig nerven. Die Stadt erinnert mich an […]

Fritz Wieninger , Rechteinhaber: Andrea Thode, Lizenzvereinbarung: Nutzung nur auf Effilee
New York ist großartig, New York ist inspirierend, aber New York kann auch gewaltig nerven. Die Stadt erinnert mich an die Fisherman’s-Friend-Werbung: Sind sie zu stark, bist du zu schwach. In diesen Straßen überlebt nur, wer vor Energie, Entschlossenheit und Selbstbewusstsein förmlich strotzt und bereit zum Kampf ist, sei es mit Ellenbogen oder Networking. Wen auf der Straße keine Aura des Hier-komme-ich umgibt, der wird einfach umgerannt. Es liegt eine wunderbare Ironie darin, dass dieses gigantische darwinistische Experiment ausgerechnet in dem Land stattfindet, in dem vier von zehn Menschen glauben, dass Gott die Menschen in ihrer heutigen Form irgendwann während der letzten 10 000 Jahre geschaffen hat. Keine Überraschung, dass die Mehrheit dieser Vier-Menschen-Gruppe regelmäßig in die Kirche geht, nicht studiert hat und republikanisch wählt – doch zurück nach New York. Meine deutsche Familiengenetik ist zwar Berlin-geschult, aber besonders wenn da drüben der Jetlag am frühen Abend seine Klauen in mich schlägt, dann sehe ich plötzlich rund um Central Park, Broadway und all die Villages nur noch Elend und Hartherzigkeit statt Lebensglück. Selbstverordnetes Gegenmittel, möglichst schnell zu verabreichen: eine ruhige Ecke und ein gutes Glas Wein.
Also, ein Abend in New York Anfang Mai, es wird langsam dunkel und kühl. Die coolen In-Läden können mir gestohlen bleiben, ich kann jetzt nicht eine Stunde auf einen Tisch warten. Das Wallsé im West Village – besternt, österreichisch, vornehm – ist abgesehen von der erstaunlich gewagten Kunst an den Wänden eigentlich ein bisschen langweilig angesichts der reisetechnischen Investitionen in Form von Zeit und Geld. Doch es bietet nicht nur einen freien Tisch, sondern auch unglaublich wohltuende Ruhe. Letzteres ist im darwinistischen Überlebenskampf dieser Stadt für die meisten ein absolutes Fremdwort. Hier wird pausenlos geredet, meist geschrien. In vielen Restaurants ist der Lärmpegel so extrem, dass spätestens am dritten Tag meine Stimme zu versagen droht, wenn ich ihr nicht mit Salbeibonbons schmeichle.
Der Wein wirkt ähnlich balsamisch auf Hals und Gemüt. In dunklem Strohgelb leuchtend, fließt er dicht und üppig, doch ohne Schwere, voller Bestimmtheit und doch kein bisschen laut … als Weinschreiberin könnte ich Ananas und Kräuter heraussortieren, vielleicht auch einen Hauch Darjeeling Oolong. Aber eigentlich ist das müßig, weil sich nichts davon in den Vordergrund drängt. Den Wein umgibt etwas Zeitloses, er wirkt reif und doch jung – und er stärkt mir den Rücken für die nächsten Tage (abgesehen davon, dass er ausgezeichnet zu den Softshell Crabs, Spargel und Morcheln auf unseren Tellern passt und im New Yorker Kontext ein Schnäppchen darstellt). Der 2009 Nußberg Alte Reben vom Wiener Weingut Wieninger hat mich gerettet.
Szenenwechsel. Wien, einen Monat später, zur VieVinum, der großen Weinmesse in der Hofburg. Liegt es an der wesentlich geringeren Einwohnerdichte und -zahl, dass hier zwar auch dauernd geredet wird, aber trotzdem eine gewisse Stille herrscht? Selbst auf der Messe schreit niemand, zumindest nicht auf menschlicher Seite. Denn nur wenige Weine sind so ausgewogen wie Wieningers Nußberg, der die Bezeichnung Wiener Gemischter Satz trägt, also aus mehreren Rebsorten entsteht, die zusammen gepflanzt und gelesen werden. Das ist an sich ein Relikt aus den Anfängen des Weinbaus, eine Versicherung gegen Wetterunbill, Krankheiten und Schädlinge, die verschiedene Sorten unterschiedlich befallen – je mehr Sorten, desto größer die Chance, am Schluss doch irgendetwas Trinkbares ins Fass zu bekommen. Der Wiener Wein war und ist für viele vor allem mit Ausflügen ins Grüne verbunden, nach Stammersdorf, Grinzing oder Sievering; er soll möglichst bezahlbar sein und in großen Mengen trinkbar zu Geselchtem und Verhackertem. Doch in den letzten Jahren ist daraus ein Trend geworden, der Wiener Gemischte Satz hat sich zu einem Liebling der Szene entwickelt und feiert große Erfolge im Export.
Fritz Wieningers Wein ist vom klassischen Heurigenwein so weit entfernt wie Softshell Crabs vom Speckknödel. Die Erhebung des Nußbergs ist ein altes Korallenriff, dessen Muschelkalkboden die Vielfalt des Weins zugleich umfasst und betont. Weißburgunder, Neuburger, Welschriesling, Grüner Veltliner, Sylvaner, Zierfandler, Rotgipfler, Traminer und Riesling werden für meinen New Yorker Retter biodynamisch an- und schonend ausgebaut. Mischmasch? Reiner Wein? Ein Miteinander wie in New York, wo zwei von fünf Menschen nicht in den USA geboren sind? Auch in Wien ist immerhin jeder Dritte Migrant. Der Gemischte Satz erlaubt unterschiedliche Modelle, setzt sich über etablierte Hierarchien hinweg. Ohne Leit-Rebsorte gibt es eine Schublade weniger im Kopf. Burgundisch? Fruchtig? Kernig? Kraftvoll? Elegant? Gereift? Jung? Laut? Leise? Ja. Und. Aber. Auch. Wie Wien. Wie New York.
Nachsatz, leider: Dass die Österreicher sich den Begriff Gemischter Satz vor kurzem EU-rechtlich haben schützen lassen, läuft diesem darwinistischen Ansatz diametral zuwider. Und auch im angeblichen Schmelztiegel New York bilden Hispanics und Latinos förmlich eine Kaste, die in den Restaurants die eigentliche Arbeit erledigen, während weiße Anglos dirigieren. Vom menschlichen gemischten Satz sind wir weit entfernt, da schreien wir alle noch nach Leibeskräften.

Text: Ursula Heinzelmann Foto: Andrea Thode
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Aus Effilee #22, Herbst 2012
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