Eine Krankenschwester im Galopp
»Manchmal hätte ich die Buchstaben am liebsten runtergeknibbelt, so wütend war ich, dass keiner kam«, erzählt Anne- Marie Biebow. Wir sitzen in den neuen Räumen ihrer Pferdemetzgerei Galopp, auf dem Tisch zwischen uns stehen Kunstblumen. Am Nebentisch sitzt hinter einer Bildzeitung ein dicker Mann mit quer über den Kopf gelegtem Haar. Frau Biebow, eine gelernte OP-Schwester, hatte, als sie die Metzgerei vor einigen Jahren übernahm, in das Schaufenster mit großen Buchstaben Pferdemetzgerei Galopp geklebt. Pferdefleisch in der weltoffenen Kölner Südstadt, hatte sie gedacht, das läuft von selbst. Doch kürzlich ist sie umgezogen, in ein neues Ladenlokal fünf Häuser weiter, ein Stück weg von den Spielotheken. »Vorher war alles marode. Das Haus war dreckig und im Hof stank der Müll … Nee, da hab ich mich richtig geschämt. Drin wohnten nur Türken. Die Moslems essen ja kein Pferd. Und dann der Name: Pferdemetzgerei Galopp …« Frau Biebow hat ihn sich ausgedacht, sie fand ihn originell. Doch viele Leute hat er wohl eher erschreckt.
»Kaffee?« Frau Biebow redet viel. Zwischendurch klemmt sie ihre pechschwarzen, etwas fettigen Haare hinters Ohr und lächelt durch einen fehlenden Schneidezahn. Dann guckt sie ihr Gegenüber fast hilfesuchend an, als erwarte sie eine Bestätigung. Bei aller Mühe kann ich mir die kleine Frau mit dem energischen Gesicht und der weißen, speckigen Strickjacke weder als Pferdemetzgerin, noch als OP-Schwester vorstellen. Warum hat sie ausgerechnet eine Pferdemetzgerei eröffnet? Ganz einfach, erklärt sie: Weil sie mit Pferdefleisch Erfahrung hat. Sie habe vorher zehn Jahre in der Pferdemetzgerei Körfgen ausgeholfen. Körfgen gebe es mittlerweile nicht mehr, aber sie habe da immer am besten verkauft. Viel besser als ihre Chefin. Die Leute hätten sie gemocht. Ihre freundliche, geduldige Art, und dass sie die Auslage immer ansehnlich und sauber gehalten habe, auch noch samstagmittags. »Die Chefin hat immer gesagt, die Leute sollen erst mal fressen, was da ist. Aber so kannst du deine Kunden natürlich nicht behandeln.« Deshalb habe Frau Biebow ihre Aushilfsstelle bei Körfgen 2004 gekündigt und sich selbstständig gemacht.
In ihr neues Schaufenster hat Frau Biebow keine Buchstaben geklebt. Stattdessen steht ein grinsendes Schwein mit fettem Bauch und einem Metzgerei-Schild vor der Brust in der Auslage. Daneben hockt eine Gans. Wo ist das Pferd? Ich betrachte die Kühltheke mit den einmal zu oft wieder hineingelegten Würsten und kalten Frikadellen. Ist das Pferd? Frau Biebow zögert: »Das meiste nicht.« Sie zeigt auf einen Metallbehälter am Rand der Auslage. Das sei Sauerbratenfleisch. Das werde ich nicht kaufen - das Fleisch steht für meinen Geschmack schon zu lange in der Sonne. Überhaupt entspricht hier nichts meinen Vorstellungen von einer Metzgerei: nicht die Möbelhauseinrichtung, nicht das Korbregal mit den Pferdegulasch-Dosen und auch nicht die handbeschrifteten Leuchtschilder über der Theke, die über den Preis des Kaffees und die Wurstbrötchenauswahl des Tages (Salami, Schinken, Frikadelle) informieren.
Die Leute seien misstrauisch, sagt Frau Biebow, weil sie nicht zu den alteingesessenen Geschäftsleuten gehöre. Sie kann nicht leugnen, dass die Pferde-Idee nicht so einfach umzusetzen ist, wie sie es sich vorgestellt hat. Aber sie ist nicht der Typ, der jammert. Stattdessen grübelt sie, was noch gehen könnte. Sie sucht nach einem neuen Namen: Futterkrippe zum Beispiel. Oder was mit Feinkost. Vielleicht könnte sie auch Kuchen anbieten.
Während ich mich frage, welche Leute hier wohl einkaufen, hält Frau Biebow etwas großes Rotes, Vakuumiertes in die Luft. Ihre Spezialität: Rauchfleisch vom Pferd. Das mache sie selber. Nur aus welchem Körperteil des Pferdes sie das Rauchfleisch herstelle, fällt ihr leider gerade nicht ein. Stattdessen erzählt sie, dass ihr Rauchfleisch so gut sei, dass sie es sogar an die Pferdemetzgerei Weber in Mülheim verkaufe. Doch auch das Pferderauchfleisch überzeugt mich nicht. Es ist zu dick geschnitten, noch nicht trocken genug und schon zu salzig. Den Geschmack kann ich nur schwer einordnen. Süßlich, moosig, irgendwie unbekannt. Die Süße, lese ich später, resultiert aus dem hohen Glycogengehalt des Pferdefleischs.
Die glücklichen Kinder der Italienerinnen
Warum will niemand Pferd essen? Frau Biebow tippt sich an die Stirn und hebt zu ihrem Lieblingsthema an: »Die Leute schmecken eh keinen Unterschied. Gerade die jungen Leute sind, wenn man mal ehrlich ist, ziemlich einfältig. Wenn du denen sagst, dat is Pferd, was du da isst, dann rasten sie komplett aus. Dabei ist Pferdefleisch das Beste, was du kriegen kannst. Da ist kein Cholesterin drin, keine versteckten Fette und kein Dope. Pferdefleisch wird auch strenger kontrolliert und es ist viel gesünder als Schwein oder Rind. Ich weiß das dadurch, dass ich Krankenschwester bin.« Frau Biebow kommt richtig in Fahrt. Pferdefleisch erfrische das Blut, weil so viel Eisen drin sei, erklärt sie, deshalb sei es auch so schön rot.
Später lese ich, dass Pferdefleisch besonders viel Eisen enthält, außerdem dreimal mehr Calcium, aber nur halb so viel Natrium und Fett wie Rindfleisch. Sogar Pferdefett gilt wegen seines hohen Gehalts an ungesättigten Fettsäuren als gesund. Die Italienerinnen, sagt Frau Biebow, wüssten das, die äßen viel Pferd, besonders nach der Geburt. Das gäben sie auch von Anfang an ihren Kindern, behauptet sie heftig gestikulierend. »Mein jüngster Kunde ist gerade 8 Monate alt und Italiener. Wussten Sie übrigens, dass Salami ursprünglich aus Maultier- oder Eselfleisch hergestellt wurde?«
Dass mit der Salami wusste ich. Und dass die Italiener Pferdefleisch mögen, hatte ich schon von meiner pferdeverliebten Freundin Clarissa gehört. Ihr Lebensgefährte ist Italiener, und wenn beim Familienbesuch »Scaloppine di Cavallo« auf den Tisch kommen, muss sich Clarissa zusammenreißen. Im europäischen Vergleich haben die Italiener tatsächlich den höchsten Pro-Kopf-Verbrauch: Sie essen beachtliche 900 Gramm Pferd pro Jahr. Da es in Italien nicht so viele Schlachtpferde gibt, importieren die Südländer einen Großteil der Tiere aus dem Osten, vor allem aus Polen. Dort werden Pferde noch häufig als Arbeitstiere eingesetzt und viele Bauern verdienen sich mit dem Verkauf von Schlachtpferden und Fohlen ein Zubrot.
Neben Italien sind es besonders die romanischen Länder wie Frankreich, die französischsprachige Schweiz und Belgien, in denen das Pferd in der Pfanne oder in der Wurst beliebt ist. Die Deutschen, so scheint es, haben in Europa das größte Problem mit totem Pferd: Im Durchschnitt isst jeder Bundesbürger gerade mal 50 g pro Jahr, also nicht mehr als ein Viertel Rumpsteak. Die Produktion von 1200 Tonnen Pferdefleisch im Jahr 2006 spricht für sich. Zum Vergleich: Im gleichen Jahr wurden 555 400 Tonnen Rind-, 21 100 Tonnen Kalb- und 2 268 400 Tonnen Schweinefleisch produziert. Die Japaner sind ganz wild auf Pferdefleisch, weil es so wunderbar zart ist - Rücken und Filet eignen sich super für Sushi. Die Amerikaner dagegen essen kein Pferd. Das ist schade, denn auf den Prärien Nordamerikas weiden riesige Herden verwilderter Mustangs, die nur schwer zähmbar sind. Damit der Bestand überschaubar bleibt, wird ein Teil geschlachtet und zu Leim oder Tierfutter verarbeitet - oder exportiert: 50 000 Tonnen Pferdefleisch liefern die USA pro Jahr in alle Welt, so viel, wie kein anderes Land.
Je kälter mein Filterkaffee wird und je länger ich Frau Biebow gegenübersitze, desto weniger kann ich mir vorstellen, wie die zierliche OP-Schwester ein Pony tötet und auseinandernimmt. »Schlachten Sie selbst? Hier zu Hause?« Zuerst sagt Frau Biebow »Ja«, dann, dass sie »manchmal« einen Raum im Schlachthof miete. Als ich später im Kölner Schlachthof anrufe, erklärt mir eine resolute Frauenstimme, dass dort noch nie ein Pferd geschlachtet wurde und legt auf. Ich lese, dass »normale« Schlachter lange Zeit keine Pferde schlachten durften: Bis 1986 war es verboten, Pferde zusammen mit anderen Tieren zu verarbeiten.
Der Grund dafür ist fast vergessen: Bis in das 19. Jahrhundert spielte die Produktion von Pferdefleisch kaum eine Rolle. Aus Angst vor Verunreinigungen und weil das Schlachten der Tiere als wenig ehrenhaft galt, wurden nur alte und kranke Pferde geschlachtet, und zwar von speziellen Pferdemetzgern mit eigenen Räumen. Doch ab etwa 1800 wurde Pferdefleisch auch professionell vermarktet und damit zu einer Konkurrenz der traditionellen Ochsen- und Schweinemetzger. Die waren davon selbstverständlich wenig begeistert, und weil es zwischen den Handwerkszweigen ständig zu Streitigkeiten kam, wurden sie schließlich gesetzlich getrennt.
Als ich frage, ob ich mal beim Schlachten zuschauen könne, druckst Frau Biebow rum. Eigentlich schlachte sie nicht selber, sondern mit einem Pferdemetzger. Ein Pferdemetzger? Frau Biebow zögert, sucht nach den richtigen Worten, senkt die Stimme: Der Pferdemetzger heiße Michael. Er habe die beste Pferdemetzgerei Kölns betrieben, die Metzgerei Krosch, und mit Pferdewetten alles verzockt. Alles futsch, sagt Frau Biebow. Die Metzgerei Krosch sei schon seit Jahren geschlossen und Michael, der Sohn des Metzgers, lebe unter einer Brücke. Frau Biebow beugt sich vor: »Beim Schlachten muss ich die ganze Zeit danebenstehen, sonst fehlt nachher die Hälfte. Stellen Sie sich das vor. Die Metzgerei war berühmt, die Familie reich, die hatte ein Schloss in Südfrankreich und Häuser. Über Generationen erarbeitet. Alles futsch. Was für eine Schande.«
Ob sie mir Michaels Telefonnummer geben könne? Frau Biebows wird misstrauisch: »Was wollen Sie denn von dem wissen? Dem ist das unangenehm, wenn ihn Leute erkennen. Sogar zu mir ist er oft komisch. Ein Zocker.« Wenn die Geschichte stimmt, sind sie ein tragisches Pärchen: die Krankenschwester und der Pleitegeier. Frau Biebow, die versucht, Pferdemetzger zu sein und sich in kurzer Zeit ohne Fachwissen einen Platz im alten Handwerk zu erobern sucht - wo doch Handwerk immer auch für Tradition steht und stets nach klaren Hierarchien funktioniert: Man macht zuerst eine Ausbildung, zieht dann als Geselle umher, wird Meister und ist erst danach reif für den eigenen Betrieb. Und dazu ihr Schlacht-Partner Michael, der die ehemals beste Pferdemetzgerei der Stadt durchgebracht haben soll und seitdem nur noch als Gerücht existiert. Einer, der in einer Welt, in der Beruf von Berufung kommt und in der man so viel Wert ist, wie das, was man tagsüber schafft, unwiderruflich untergegangen ist.
Die beste Pferdemetzgerei der Stadt
Ich will mir die Überreste der besten Pferdemetzgerei Kölns trotzdem ansehen. Vielleicht treffe ich sogar den Michael?! Die ehemalige Metzgerei heißt jetzt Kunstraum 22 und wird als Ausstellungsraum für moderne Kunst und Fotografie genutzt. An der Eingangstür gibt es noch den original Türknauf mit Pferdekopf. Der aktuelle Mieter Hubert Stein, ein bildender Künstler und Journalist, zeigt mir die Räume, die er vor sechs Jahren renoviert hat. »Das hier vorne war der Verkaufsraum, in der Mitte war die Theke und hinten durch die Verarbeitungsräume«, erklärt er. Der Marmor auf dem Boden sei original und dort, er zeigt auf eine massive Edelstahltür, sei das Kühlhaus gewesen - heute befindet sich dahinter ein begehbares Bücherregal. Über den Alltag in der Pferdemetzgerei Krosch und den Verbleib von Michael weiß Hubert Stein nichts.
»Frag doch mal Frau K.«, schlägt Stein vor. »Die lebt nebenan und hat über dreißig Jahre in der Metzgerei gearbeitet.« Einige Tage später ist Frau K. auf meinem Anrufbeantworter. Sie klingt ziemlich kölsch: »Dat Manuela? Se wollten wat über Pferdefleisch wissen?« Als ich zurückrufe sagt sie: »Wir treffen uns im Eiskaffee vor Kaufland. Um 18 Uhr. Isch esse Eis und trinke Mineralwasser. Sie finden misch.« Ich finde sie tatsächlich, obwohl ich sie mir anders vorgestellt habe: rustikaler und brünett. Die Frau mit dem Erdbeerbecher und der Handtasche auf dem Schoß ist blond und eher unscheinbar. Sie trägt ein rotes Jackett, Goldschmuck, eine Kurzhaarfrisur und wirkt jünger als siebzig.
Als ich mich setze, beugt sie sich zu mir und raunt: »Wie kommen Sie denn auf den Laden?« Ich erzähle ihr, dass ich mich für Pferdefleisch und den Rheinischen Sauerbraten interessiere und gerne mit jemandem spräche, der sich auskennt. Nun hätte ich aber schon so viele Gerüchte über den Untergang der Pferdemetzgerei Krosch gehört, dass ich das jetzt auch wissen will. Frau K. sagt, da könne sie ein Buch schreiben, sie wisse einfach zu viel. Vorweg, ihren Namen möchte sie nicht veröffentlichen. 34 Jahre hat sie zusammen mit ihrem Mann in der Pferdemetzgerei gearbeitet. Eigentlich habe sie Textilverkäuferin gelernt, dann sind die vier Kinder gekommen. Weil der Mann an seinem freien Tag immer das Pferdegulasch für die Metzgerei in Dosen füllen musste, ist sie irgendwann mitgegangen, um ihm zu helfen. »Damit das schneller ging. Damit wir wenigstens einen halben Tag zusammen frei hatten.« Irgendwann stellte der Chef sie ein.
»Es war eine super Zeit, wir haben viel gelacht. Der Chef, der alte Krosch, war ein Guter. Und der konnte reden … Der behauptete gerne mal, dass er ein bisschen bekloppt sei.« Frau K. lacht und ihre Augen leuchten. »Zwei Kronleuchter hatten wir in der Metzgerei und Marmorboden, alles vom Feinsten. Die Leute kamen gerne zu uns. Wir hatten das beste Pferdefleisch!« Man sieht Frau K. an, wie sie dieses Leben geliebt hat. Aber seit der Laden zu ist, esse sie kein Pferd mehr. »Wenn Sie einmal wissen, wie es schmecken kann, dann wollen Sie nichts anderes mehr.« Sie liebe den Geschmack von Pferd, den speziellen Geruch beim Anbraten werde sie nie vergessen. Die alte Dame verdreht schwärmend die Augen, während sie beschreibt, wie sie Filet und Steak vom Pferd für ihre Kinder gebraten hat - nur mit einem Stück Kräuterbutter garniert. Stolz erinnert sie sich, dass ihr Pferdegulasch auf Partys immer sofort aufgegessen war und die Wurst nirgendwo so gut schmeckte wie früher im Laden. »Das hatten sie raus, mein Mann und der Chef. Kriegen Sie heute nirgends mehr.«
Doch als der Chef 1997 starb, sei es vorbei gewesen. Da habe der Sohn, der Michael, über Nacht alles durchgebracht. Der habe auch Schlachter lernen müssen, aber im Laden des Vaters durfte er nie arbeiten. Der alte Krosch habe immer vorausgesagt, dass der Sohn alles kaputt machen würde. »Aber sie haben das Kind auch zu kurz gehalten«, sagt Frau K. »Der Chef hatte sich ja scheiden lassen und dann mit Michaels Cousine jeklüngelt …«
Die letzten Jahre in der Pferdemetzgerei seien für Frau K. schlimm gewesen. Dauernd habe sie lügen müssen, weil der Gerichtsvollzieher vorbeigekommen sei. »Eines Morgens kam ich zur Arbeit, da sagte Michael, Sie brauchen heute nicht aufschließen, der Laden bleibt zu. Ich wusste ja, dass es passieren würde, aber als es so weit war …« Sie schüttelt den Kopf und guckt ins Leere. »Ich würd den Michael ja mal gerne wieder treffen. Der muss irgendwo hier rumstreunen. Dann würd ich den …«, sie macht eine Bewegung mit beiden Händen, »dat kann ich Ihnen sagen.«
Von wertvollen Tieren und billigem Essen
Unvermittelt fragt mich Frau K., wie es denn heute eigentlich sei mit Pferd. Wenn ich das wüsste! Anscheinend kam es irgendwann aus der Mode. Ich erzähle, dass Pferdefleisch inzwischen als Futter für Vierbeiner beliebt ist. Frau Biebow hatte mir einen Vakuumbeutel mit gekochtem Reis und Pferdefleisch gezeigt. Sie sagte, dass heutzutage viele Haustiere Allergien hätten und das Industriefutter nicht mehr vertrügen. Das sei ein gutes Geschäft, denn die Tierhalter zahlten 5,99 bis 9,50 Euro pro Kilo. Frau K. verzieht kopfschüttelnd das Gesicht. Das hätte es zu ihrer Zeit nicht gegeben. Und über Frau Biebows Metzgerei murmelt sie: »Nee, dat iss ene knüssels Laden.«
Ich finde es erstaunlich, dass Menschen Pferdefleisch lieber an Hunde verfüttern, als es selbst zu essen. Frau K. ist sicher, dass das mit dem Wohlstand zusammenhängt. Früher sei Pferd normales Fleisch gewesen, etwas billiger als Rind. Dann sei es immer teurer geworden. Vielleicht, weil es nach dem Zweiten Weltkrieg weniger Pferde gab? Sie nickt. Trotzdem betrachten viele Pferdefleisch noch heute als Arme-Leute-Essen.
Vielleicht haben sich die Fotos von toten Pferden, die im Krieg als letzte Fleischalternative ausgeweidet wurden, im kollektiven Gedächtnis verankert? Oder Skizzen wie die von Gustave Doré (1832-1883), die einen Fleischverkaufsstand während der Belagerung von Paris 1870/71 zeigt: Statt der üblichen Rind- oder Schweinestücke liegt Ratten- und Pferdefleisch in der Auslage.
Neu sind die Pferdeskrupel nicht. Der Ethnologe Marvin Harris behauptet sogar, dass Pferde für die Menschen immer schon zu wichtig waren, um sie ausschließlich als Fleischlieferanten zu nutzen. Sie waren teure Kriegsmaschinen, landwirtschaftliche Hilfsmittel und lange Zeit das schnellste Fortbewegungs- und Kommunikationsmittel. Pferde seien im Unterhalt teurer als Rinder und Schafe, weil sie mehr Energie verbrauchen und ihr Futter weniger effizient verwerten als Wiederkäuer. Deshalb dienten sie ursprünglich nur solchen Kulturen als Fleischlieferant, die genügend große Weideflächen zur Verfügung hatten. Die Völker Nordasiens beispielsweise lebten von und mit ihren Pferden. Mongolische Reiterheere führten bei Kriegszügen so viele Pferde mit, dass sich die Krieger unterwegs von deren Blut und Fleisch ernähren konnten.
Doch in Europa gab es solch große Weideflächen seit der Eiszeit nicht mehr, und so waren Pferde hier immer etwas Besonderes. Schon 732 verbot Papst Gregor III. den Christen, Pferdefleisch zu essen. In einem Brief an seinen Missionar Bonifatius behauptete der Papst, der Verzehr von Pferdefleisch sei »unrein und verabscheuungswürdig«. Über seine Beweggründe darf spekuliert werden: Papst Gregor stammte aus einer alten römischen Familie, und da Pferdefleisch auf dem römischen Speiseplan nicht vorkam, war es ihm als Nahrungsmittel wahrscheinlich suspekt. Vor allem wollte er aber wohl das heidnische Ritual des Pferdeopfers unterbinden und damit die christliche Mission erleichtern.
Im gesamten Mittelalter war es verpönt, Pferdefleisch zu essen, selbst alte Tiere durften nur heimlich geschlachtet werden. Erst als Ärzte im 19. Jahrhundert die gesundheitlichen Vorzüge entdeckten, wendete sich das Blatt. Man versuchte das Reit- und Arbeitstier auch als Fleischlieferant bekannt zu machen: Der oberste Stabsarzt Napoleons, Baron Dominique Jean Larrey, empfahl seinen Truppen schon 1807, die in der Schlacht gefallenen Pferde zu essen - gegen Skorbut. Bis ins 20. Jahrhundert kam es in ganz Europa zu regelrechten Pferdefleischtrends, doch zumindest in Deutschland konnte sich das Ross nicht durchsetzen.
Das Rezept
Die Frage, wie es ums Pferdefleisch steht, ist komplex. Auch Frau K., immerhin vom Fach, weiß keine Antwort. Dafür verrät sie mir, bevor wir uns nach fast zwei Stunden verabschieden, ihr Sauerbratenrezept. Das ist eine große Ehre, denn es ist wohl das Original aus der Pferdemetzgerei Krosch. Sie sagt, da gebe es kein Geheimnis, außer, dass die Qualität des Fleisches stimmen müsse. Fohlen würde sie allerdings nicht nehmen, das sei zu schade und habe noch nicht den charakteristischen Geschmack.
Ansonsten mache sie beim Sauerbraten keinen Schnickschnack: Nelken in einem Teil Essig und zwei Teilen Wasser aufkochen, abkühlen lassen und das Fleisch in den Sud legen. Das Fleisch steche sie vorher ein, damit der Essig einziehen kann. Sie lässt es mindestens zehn Tage marinieren. Manche nähmen noch Wurzelgemüse, Pfeffer, Lorbeer und Senfkörner und kochten das alles im Essigsud auf, das sei Geschmackssache. Nach dem Einlegen müsse man das Fleisch abtupfen und anbraten. »Dabei hab ich es immer mit Zucker bestreut«, sagt Frau K., »aber aufpassen, das kann schnell anbrennen. Dann kommt der Essigsud drauf und eventuell noch ein bisschen Rotwein drüber. Das Fleisch sollte mit Flüssigkeit bedeckt sein. Viele Zwiebeln mache ich dran, etwas Salz natürlich und vielleicht noch Zucker, dass das schön süßsauer wird. Nach ungefähr zwei bis drei Stunden ist das Fleisch weich. Dann nehme ich es raus, siebe die Sauce durch und binde sie mit Mondamin. Dat war et.« Viele machten noch Printen in die Sauce, dann könne man auf das Mondamin verzichten. Rosinen seien auch beliebt. Eine Anekdote besagt übrigens, dass der Sauerbraten von dem römischen Kaiser Julius Cäsar höchstpersönlich nach Köln gebracht worden sei. Bei seinem Zug nach Gallien habe der Feldherr sein Fleisch in Essig konserviert und die Methode so ins Rheinland gebracht. Dass für den Sauerbraten Pferdefleisch verwendet wird, soll dagegen ein Überbleibsel der französischen Besatzung Anfang des 19. Jahrhunderts sein. Als ich Wochen später meinen ersten Rheinischen Sauerbraten vom Pferd, genauer von einem Kilogramm der Oberschale, zubereite, werde ich es mir nicht verkneifen können, die Sauce doch mit Rosinen, Rübensirup und Printen anzureichern. Nach drei Stunden langsamen Schmorens wird das Fleisch butterweich auf meiner Zunge schmelzen. Ich werde andächtig genießen und mir wird trotz des schlechten Wetters wohlig warm sein. Zusammen mit einem 2006er Laumersheimer Kirschgarten vom Weingut Phillip Kuhn, den mir mein Freund Sebastian Bordthäuser empfohlen hat, werde ich ein Aromen-Inferno erleben: weich, würzig, holzig und erdig, süß und sauer. Aber so weit ist es noch nicht. Als ich mich von Frau K. verabschiede, habe ich noch immer kein Pferdefleisch. »Vergessen Sie es. Es gibt sowieso kein gutes mehr in Köln. Aber wenn Sie unbedingt welches wollen, probieren Sie es beim Weber in Mülheim.«
Zweifel
Einige Tage später bekomme ich Zweifel. Da sind diese schrecklichen Fotos. Unter www.pferd-und-fleisch.de ist der Metzger Hans Holzapfel zu sehen, wie er einem Apfelschimmel ein Bolzenschussgerät zwischen die schönen Augen drückt. Es scheint fast, als flüstere er ihm dabei noch einige letzte Worte zu. Die Überschrift der Seite lautet »Einfühlungsvermögen braucht man schon. Ein Besuch in der Pferdemetzgerei«. Der Pferdeschlachter müsse mehr Zeit für die Schlachttiere opfern als seine »normalen« Kollegen, heißt es da. Ein paar Bilder weiter liegt der Apfelschimmel mit dem Bauch nach oben in einer Wanne. Sein Fell ist abgezogen, die Beine an den Kniegelenken abgeschnitten, der Kopf fehlt. Nur der lange Hals deutet darauf hin, dass das arme Wesen ein Pferd war.
Sind Pferde doch zu schade, um sie zu essen? Aber was unterscheidet sie von einem Rind? Gut, sie sind keine Nutztiere mehr. Pferde sind heute Statussymbole, Sportsfreunde und Familienmitglieder. Psychologen sagen, dass wir Haus- und Streicheltiere nicht essen, weil sich das wie Verrat anfühlt. Unter Pferdefreunden ist diese Sicht weitverbreitet. Als Mädchen hätte ich unter keinen Umständen Pferd gegessen. Ich wäre beim Anblick eines Pferdesteaks in Tränen ausgebrochen. Wie so viele meiner Freundinnen wünschte ich mir nichts sehnsüchtiger als ein Pferd. Ich las Wendy, die Nummer 1 unter den Pferdemagazinen für Mädchen und lauschte andächtig meinem Opa, wenn er Heintjes Mamatschi, schenkst du mir ein Pferdchen zum Besten gab. Für Kinder sind Pferde mehr als Tiere - seit Black Beauty und Fury gehören sie zu ihren Helden.
Vielleicht lieben wir Pferde, weil sie so große Augen haben, in die man vieles projizieren kann. Oder wegen ihrer Ohren, die stets aussehen, als verstünden sie die Ängste und Hoffnungen ihres menschlichen Gegenübers. Pferde entsprechen in besonderer Weise unserem Schönheitsideal: Sie haben einen hübschen Kopf, eine stolze Haltung und bewegen sich anmutig und geschickt. Auf eine gewisse Art haben sie sogar menschliche Züge: Der australische Fotograf Julian Wolkenstein und der Stylist Acacio da Silva frisierten, stylten und portraitierten kürzlich drei Pferde - mit Dauerwelle, Pony und Rastazöpfen sahen sie aus wie Hollywood-Schönheiten. Vielleicht sind es aber auch die Gegensätze, die Pferde so begehrenswert machen: Stärke, Kraft und Macht treffen auf Sanftheit, Ruhe, Sensibilität - und die Bereitschaft, sich gegen eine Belohnung unterzuordnen.
An einem Sonntag im August war ich mit meinem Bruder das erste Mal auf einer Galopprennbahn, beim Rheinlandpokal in Köln-Weidenpesch. Wir landeten in einer bunten Welt, in der Sonnenhut und Fernglas zur Grundausstattung gehören, in der nur Wettscheine, Quoten, Geld, Champagner und teurer Schmuck zählen. Nach einer kurzen Orientierung liefen wir wie elektrisiert den Pferden hinterher: am Führring die Favoriten sichten, die Quoten checken, am Wettschalter den Tipp abgeben und ab zur Rennbahn. Jawoll, das Pferd mit der Nummer 4, Mi Benedict, hat mit einer Länge gewonnen: 9 Euro Gewinn! Nächste Runde. Seit Sonntag verstehe ich, welches Gefühl Menschen beschreiben, wenn sie sagen, sie gingen am Sonntag auf die Rennbahn. Ob Michael dafür seine Metzgerei verzockt hat?
Die Letzten, die Pferd machen
Die Pferdemetzgerei Weber ist in Köln seit 160 Jahren eine Institution. Im Kreis derjenigen, die gerne Pferdefleisch essen, genießt sie Kultstatus. Für alle, die sich nicht dafür interessieren, ist sie dagegen ein unscheinbarer Laden mit verschrobenen Öffnungszeiten und vergilbten Gardinen. Ich hätte ihn in der kleinen Seitenstraße in Mülheim fast übersehen. Die Viertel, in denen sich Pferdemetzger befinden oder befanden, sind übrigens alle ehemalige Arbeiterviertel. Wurde Pferd im 20. Jahrhundert zum Arbeiteressen? Und ist es heutzutage nicht mehr gefragt, weil die Arbeiterwelt langsam von der Dienstleistungsgesellschaft überrollt wird?
Ich stoße die 50er-Jahre-Glastür auf und betrete das Kuriosum des Fleischerfachgeschäftes. Ich weiß sofort, dass ich in einer Metzgerei gelandet bin, in der noch alles sein Geld Wert ist, Stück für Stück. Hier geht es nicht nur um Fleisch, sondern auch um Vertrauen und Fürsorge, man kennt sich und erkundigt sich nach der Gesundheit von Frau und Kindern. Im Schaufenster werben handgeschriebene Schilder für Hundefutter, eine Tafel liefert Informationen über die Vorzüge von Pferdefleisch, Plastikblumen und rote Kisten schmücken die Auslage.
An den Wänden hinter dem Tresen baumeln Pferdeknacker vom laufenden Meter, dicke und dünne Fleischwürste vom Pferd. Überall stapeln sich charmant antiquierte Dosen: Weber´s 1a Gulasch vom Pferd, Weber´s 1a Sauerbraten vom Pferd. Dazwischen Pferdebilder und Statuen: grazil trabende Pferde aus Porzellan, Pferdeköpfe aus Eisen, Zaumzeug, ein altes Geschirr, das als Spiegelrahmen dient, ein glänzendes Beil. Auf einem Schild steht: »Das Anfassen der Ware ist poliz. verboten! Metzgermeister Bernhard Horst. Bottrop«. Auf den Plastikbechern in der Auslage steht mit schwarzem Filzstift: »750 g Fohlen, 11 Euro.«
Mittendrin steht die Inhaberin Gerda Horst. Sie ist klein, blond, trägt einen klassischen Metzgerkittel und verkauft gerade einem Stammkunden zehn Würste, während sie von ihrem Sohn und seiner Familie erzählt. Einzig die Runzeln im Gesicht und ihre Zähne deuten auf ihr fortgeschrittenes Alter. Mir gegenüber gibt sie sich eher wortkarg. Als ich erzähle, dass ich in der Pferdemetzgerei in der Südstadt gewesen sei, huscht ihr ein spöttischer Ausdruck über das Gesicht. Sie schüttelt den Kopf und sagt: »Wir sind die Letzten, die Pferd machen.«
Als ihr Mann Bernhard Horst nach vorne kommt, entspannt sich die Stimmung. Herr Horst hat einen festen Händedruck und macht einen grundsoliden Eindruck. Dass die Krankenschwester in der Südstadt sich Pferdemetzger nennen darf … na ja. Er mache noch alles selbst, das sei doch Ehrensache. »Aber so viel ist es nicht mehr. Hauptsächlich die Dosen mit Sauerbra- ten und Gulasch.« In die Küche gucken darf ich aber nicht. »Das ist auf keinen Fall möglich.« Stattdessen bietet Herr Horst mir an, von hinten einen Pferdeschweif zu holen, wenn ich so was mal sehen wolle. »Den können Sie auswaschen und als Perücke nehmen«, scherzt er, fügt dann aber hinzu, dass man das früher wirklich gemacht habe. Später habe man Rosshaar eher für Stoffe oder als Polstermaterial genutzt.
Als ich Herrn Horst frage, ob er die toten Pferde ganz und mit Fell bekäme, muss er lachen. »Neee, die kommen in Vierteln aus dem Schlachthof, quasi küchenfertig.« Seine Pferde kaufe er bei Richard Mecke in Werne, Westfalen. Das sei eine größere Schlachterei, die schlachteten wohl so zwanzig Pferde pro Woche. Außerdem handelten sie mit Futterfleisch für Tiergärten, Zoos und den Zirkus. Die meisten Pferdemetzgereien seien aber kleine Betriebe. Viele stünden auf Märkten. Später finde ich auf www.pferd-und-fleisch.de eine gute Zusammenstellung größerer und kleinerer Pferdemetzgereien, samt Hinweisen, ob sie ihre Schlachtpferde aus der Region beziehen.
Herr Horst packt mir ungefragt ein frisches Pferdesteak ein, während er mir erklärt, dass er in dieser Woche erst zwei Pferde bekommen habe, ehemalige Polizeipferde. Die waren super, weil sie ihr ganzes Leben optimales Futter bekommen hätten, da schmecke das Fleisch noch zart, auch wenn die Tiere schon 13 oder 14 Jahre »auf dem Buckel« hätten. »Nächste Woche müssen Sie wiederkommen«, sagt er zum Abschied, »da gibt es frisch gekochten Sauerbraten zu probieren.« Denn dann sei im Viertel Kirmes und der Laden gerammelt voll. Abgemacht, ich komme wieder. Aber zuerst will ich alleine Pferdefleisch probieren.
Es kostet mich einige Überwindung, als ich mit dem dunkelroten Pferdesteak zu Hause am Herd stehe. Ich lege das edle Fleischstück in das fauchende Olivenöl und behandle es wie ein Rindersteak: rechts, links anbraten, würzen und bei 100 Grad im Ofen ziehen lassen. Unterdessen brate ich in der Pfanne ein paar Schalotten, Rosmarin, Thymian, Knoblauch und Pfifferlinge. Als ich das Steak anschneide, bin ich beeindruckt. Die Farbe ist toll und der Geschmack kräftig, ein wenig dunkler als Rind, erdiger. Süß könnte man es nennen, aber gleichzeitig vollmundig und vielleicht etwas herb.
In der folgenden Woche fahre ich noch einmal in die Pferdemetzgerei Weber. Bernhard Horst hatte Recht: Es ist Kirmes und der Laden brummt. Vor der Metzgerei essen junge Familien und alte Leute an Biertischen Pferdewurst mit Senf und Sauerbraten aus Plastikschalen. Neben mir steht ein Herr, der mir ungefragt die Vorteile von Pferdefleisch auflistet. Er kauft seit dreißig Jahren bei Weber, er isst wegen seiner Neurodermitits nur noch Pferd. An der Theke schiebt eine korpulente Frau um die dreißig gerade 80 Euro für Pferdewürste und diverse Gulasch- und Braten-Dosen über die Theke: »Die Sauerbratensauce ist so lecker, die kann ich ohne alles löffeln.« Die Stimmung ist wie in einem Wimmelbuch von Ali Mitgutsch.
Hinter der Theke arbeitet das Ehepaar Horst. Wurst wird heiß gemacht und in Brötchen gesteckt, Sauerbraten aus einer großen Kippbratpfanne geschöpft. Andauernd kommen neue Kunden rein. »Normalerweise ist es nicht so voll wie heute«, sagt Bernhard Horst. »Aber ab Montag machen wir zwei Monate Urlaub. Und die Kirmes wollten wir noch mitnehmen, das hat Tradition.«
Ich kaufe Sauerbraten, Wurst und Dosen mit Pferdegulasch. Die Rechnung ist respektabel. Beim Bezahlen fällt mir eine Collage hinter der Theke auf: Herzlichen Glückwunsch heißt es dort von den Enkeln und Kindern. Das sei vor sieben Jahren zum Siebzigsten gewesen. Seit 52 Jahren sind Gerda und Bernhard schon ein Metzgerteam. 1980 haben sie die Pferdemetzgerei Weber übernommen, vorher hatten sie einen Laden in Bottrop. Gerdas Eltern und Großeltern waren dort ebenfalls schon Pferdemetzger. Die Tochter ist mit einem Pferdemetzger verheiratet und auch der Sohn hat Pferdemetzger gelernt, lebt aber inzwischen von einem Hotel und Häusern im Emsland. Horst ist stolz auf seine Kinder, obwohl keiner seinen Laden übernehmen wird. Die 160-jährige Tradition der Pferdemetzgerei Weber in Mülheim ist bald vorbei.
Ein sehr alter Mann mit Hut sitzt an einem wachstuchgedeckten Tisch und löffelt Gulasch. Gerda Horst beugt sich über die Theke und ruft: »Ist es gut? Schmeckt‘s?« Zu einer vielleicht zehn Jahre jüngeren Frau neben ihm sagt sie: »Wie alt ist er jetzt?« Und noch mal lauter: »Wie! Alt! Er! Ist!?« Die Frau antwortet: »96. Moped fährt er nicht mehr, aber sonst ist alles gut.« Hinter dem Mann traben Porzellanpferdchen. Von einem Schwarz-Weiß-Foto lächeln zwischen unzähligen Würsten Gerda Horsts Mutter und Großmutter. Je länger ich bleibe, desto mehr kommt mir die Situation wie eine Schwarz-Weiß-Aufnahme vor: wie ein Bild, das langsam verblasst und bald verschwunden sein wird.
Ein Mann reißt mich aus meinen Gedanken: »Was machen Sie denn hier, eine Milieustudie?« Wahrscheinlich trifft es das ganz gut, doch ich antworte ihm, dass ich mich nur für Pferdefleisch und Sauerbraten interessiere. Er tätschelt den Kopf seines sechsjährigen Enkels, der gerade in eine Wurst beißt und lacht: »Der weiß gar nicht, was das ist.« Und zum Jungen: »Dat is lecker, ne? Dat is Pferdewurst.« Der Junge mampft und nickt beiläufig. Er macht sich wohl mehr Gedanken über den Samstagnachmittag und das nächste Fußballspiel, als über die Herkunft seiner Bockwurst.
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