Im Wohnzimmer: Das Kaffeehaus

In Wien nennt man das Kaffeehaus um die Ecke das zweite Wohnzimmer, denn als solches wird es genutzt. Man fühlt sich wie zu Hause, ist aber nicht zu Hause. Man ist ausgegangen, aber nicht wirklich draußen. Kristian Ditlev Jensen ließ sich in einem Wiener Kaffeehaus auf einem blauen Sofa nieder – und blieb einen Tag lang sitzen

9.30

»Guten Morgen. Ich möchte heute in einem Wiener Kaffeehaus sitzen und das Leben betrachten«, erkläre ich dem freundlichen Mann mit den warmen, braunen Augen, der mich mit einem Zwinkern begrüßt. Er ist in Schwarz und Weiß gekleidet, dem klassischen Anzug der Oberkellner, und hat eine große Geldtasche, die so schwer ist, dass sie die hintere Hosentasche abzureißen droht. Er antwortet: »Ja, wenn das Gottes Wille ist, so treten Sie doch ein! Was darf ich Ihnen bringen?«

Das Café Weidinger am Lerchenfelder Gürtel im 16. Wiener Bezirk ist seit mehr als achtzig Jahren im Besitz derselben Familie. In den hohen Räumen ist alles in dunklem Holz und verstaubten Blautönen gehalten. Den Fußboden bedeckt graues Linoleum, die Wände triefen von Nikotin. Die Möbel des alten Kaffeehauses sind abgenutzt, an vielen Stellen hat sich die schwarze Farbe gelöst, die Kanten zeigen schmutzige dunkle Flecken. Die Gäste repräsentieren eine breite Palette der Wiener Bevölkerung. Und jedes Mal, wenn ein neuer Gast hereinkommt, ruft der Ober in fast schon überdreht munterer Manier: »Grüß Gott! Wunderschönen guten Morgen!«

Ein Stück weiter sitzt ein tätowierter Mann mit völlig zerzausten Haaren, der etwas wirr wirkt. Er trinkt eine Tasse Kaffee mit Milch. Ein älteres Paar unterhält sich gemütlich beim Tee. Etwas tiefer im Lokal sitzt an einem der quadratischen Tischchen ein Ehepaar beim Frühstück, versteckt hinter großformatigen Tageszeitungen. Ein glatzköpfiger, intellektuell wirkender Mann trägt eine Anzugjacke mit Flicken an den Ärmeln und eine kleine, blitzende Brille. Er trinkt ein Ottakringer, das ist das lokale Bier. Für ihn hat der Tag offenbar schon vor längerer Zeit begonnen.

Ich bestelle mir ein traditionelles Wiener Frühstück. Das kleine Arrangement besteht aus einer Melange, also einem Espresso mit warmem Milchschaum, zwei Brötchen, die in Wien Semmel heißen, einem Schälchen mit eisgekühlter Butter und einem Schälchen mit Marmelade – Himbeer- und Aprikosenmarmelade werden in derselben Schale serviert.

In Wien bekommt man mit dem Kaffee stets auch ein Glas Wasser, zusammen serviert auf einem traditionellen kleinen Metalltablett. Im Café Weidinger balanciert der Löffel für den Kaffee auf dem Wasserglas. Nach wenigen Minuten wird das Frühstück durch ein weich gekochtes Ei ergänzt. Es wurde gerade frisch in der alten Küche gekocht, wo ein einziger Koch für das Essen aller Gäste des Lokals sorgt, das Platz hat für mehr als hundert Personen.

Sitzt man im Kaffeehaus, liest man Zeitung. Das ist einfach so. Ich lese den Kurier vom Freitag, dem 4. Juni 2010. Lese von der entsetzlichen Gasexplosion, die in St. Pölten ein Mietshaus zum Einsturz brachte. Drei Menschen sind tot und viele verletzt. Mein Ober stellt mir noch ein Glas Wasser neben den halb ausgetrunkenen Kaffee. »So machen wir das in Wien«, erklärt er pädagogisch.

10.30

»VIOOOLAAA! Wohin willst du? Willst du gar keinen Kaffee haben?« Mein Ober geht auf seine Stammkunden mit loyalem Engagement zu. Die junge Studentin links von mir klappt ihr Handy zu. Während sie auf ihren Begleiter wartet, liest sie weiter Zeitung. Sie ist ganz in Blau-Grün-Töne gekleidet, sogar die Halskette passt zu den türkisfarbenen Stoffen.

Ein junger Mann kommt herein und nimmt auf einem der vielen blauen Sofas Platz. Er trägt eine schicke, traditionelle Jacke aus dicker schwarzer Wolle, Kragen und Taschen sind rot abgesetzt. Es heißt, wer eine solche Jacke zu lesen versteht, könne sagen, woher der Träger kommt. Ob Kärnten, Steiermark oder Wien, alle Jacken sind durch die Gestaltung der Einfassungen, der Kragen und der Wolle gekennzeichnet. Ein Mann Ende dreißig sitzt ebenfalls beim Frühstück. Bei ihm besteht es aus einem Großen Braunen – also einem doppelten Espresso mit etwas Milch ohne Schaum, in etwa wie ein portugiesischer Cortado – und einer halben Schachtel Zigaretten. Das Café Weidinger ist jetzt schon gut eingeräuchert.

»Ich heiße Vlastimir«, sagt mein Ober. »Vlastimir Blangojevic.« Er hat diesen exotischen Namen, weil seine Großeltern aus Rumänien nach Serbien einwanderten. Von dort emigrierten sie nach Italien und vor 31 Jahren kamen sie schließlich nach Wien. »Ich habe in den letzten 29 Jahren hier im Café Weidinger gearbeitet. Hat man einmal das Wiener Wasser gekostet, will man nie wieder weg. So ist es doch, oder? Nein, Spaß beiseite. Ich bin nur ein Gastarbeiter, oder? Die gibt es doch sicher auch da, wo Sie herkommen.«

Ich könnte jetzt auch ganz traditionell im Café Bräunerhof sitzen. Oder zusammen mit den Touristen im Café Central. Ich könnte bei Demel sitzen, der Damen-Ausgabe eines Kaffeehauses. Ich könnte im Café Grienstidl sitzen, wo es die beste Schwarzwälder Kirschtorte der Stadt geben soll. Oder bei Hawelka, einem Kaffeehaus mit Plakaten an den Wänden, zusammengestoppeltem Mobiliar und jeder Menge Studenten. Im Café Landtmann an der Ringstraße könnte ich die vornehmste Bedienung der Stadt erleben und den besten kühlen Sekt – zu den wohl höchsten Kaffeehauspreisen der Stadt. Im Café Sacher könnte ich jetzt ein Stück Sie-wissen-schon-was essen. Und im Café Sperl bekäme ich einen ordentlichen Durchschnitt von allem.

Endlich ist auch der Freund der Studentin gekommen. Pferdeschwanz, Spitzbart, er ist vom Radfahren noch außer Atem. Er bestellt eine Tasse heiße Schokolade. Ich bestelle mir die zweite Melange des Tages.

11.30

Ein Mann mittleren Alters hat mitten im Kaffeehaus Platz genommen. Sein Hund liegt zusammengerollt unter dem Tisch, die Schnauze flach auf dem Boden, er sieht aus wie ein sahnefarbener Wolf. Ein fahl wirkendes Paar ist vom Grund Wiens an die Oberfläche gekommen. Er trägt barfuß Sandalen, seine Jeans sind schmutzig und unmodern. Ihr dünnes Haar ist fettig, sie hat schlechte Zähne. Beide trinken einen halben Liter Bier und führen halblaut ein ernstes Gespräch. Ein älteres Paar will von Vlastimir das gesamte Frühstücksmenü erklärt bekommen. Der Mann trägt ein Seemannskäppi. Die sind wohl nicht von hier.

Was soll ich trinken? Für Alkohol ist es noch zu früh. Also noch mehr Kaffee? Wien bietet eine Reihe Spezialitäten aus der dunklen, verführerischen Welt des Kaffees. Der Grundstein des Wiener Kaffee-Universums ist ein Kleiner Schwarzer, das ist ein gewöhnlicher Espresso, serviert in einer kleinen Tasse. Er wird auch in einer besonders starken Variante angeboten, gebraut mit weniger Wasser – dann bittet man um einen Kurzen. Mit warmer Milch wird ein Kleiner Schwarzer zu einem Kleinen Braunen, in der Doppelausgabe zu einem Großen Braunen respektive Großen Schwarzen. Sowohl Schwarzen wie Braunen gibt es auch als Verlängerten, also mit mehr Wasser zubereitet. Am üblichsten ist eine Melange: ein mit etwas mehr Wasser gekochter Espresso, der mit heißer Milch und reichlich heißem Milchschaum serviert wird.

Wenn man um einen Franziskaner bittet, hat der Kaffee noch einen großen Klecks Sahne bekommen. Eine Kleine Schale Gold ist eine Miniausgabe der Melange, in einer Espressotasse serviert. Ein Kaffee verkehrt ist ein Espresso mit viel Milch, etwa wie ein italienischer Latte macchiato. Wenn es richtig wienerisch sein soll, bittet man um einen Einspänner, also einen Espresso mit viel Sahne, der in einem besonderen Einspännerglas serviert wird. Ein Kapuziner ist ein doppelter Espresso mit viel Sahne. Dann gibt es noch den eigentümlichen Überstürzt Neumann, eine kleine Tasse Sahne, begleitet von einem Kännchen mit einem doppelten Espresso – da kann man das Überstürzen selbst übernehmen.

Schließlich gibt es noch Kaffee für Erwachsene – mit Alkohol. Am bekanntesten ist der Fiaker. Überall in Wiens Innenstadt begegnet man schönen Pferdekutschen, die vor allem Touristen zu den Sehenswürdigkeiten fahren, die wie misslungene Konditorkuchen in ganz Wien herumstehen. Die Kutscher heißen Fiaker, und weil in Wien ein Kutscher zu sein eine kalte Angelegenheit ist, wird der Begriff Fiaker im Kaffeehaus für eine Tasse Espresso mit einem wärmenden Schuss Rum gebraucht.

Ich beschließe, erst einmal genug Kaffee getrunken zu haben, und bestelle einen gespritzten Apfelsaft. Das ist gewöhnlicher Apfelsaft mit einem Schuss Mineralwasser.

12.30

Ein sehr großer Mann ist ins Café Weidinger gekommen, so ein Professorentyp mit grauem Haar und dicken Brillengläsern, der sich sofort einen Stoß Zeitungen nimmt und gleich mit der Lektüre beginnt. Ein junger Mann bekommt eine Cola plus ein kleines Glas Zitronenlikör. Ein Studentenpaar mit echten Rastazöpfen hat eine Ecke belegt, von der aus es das gesamte Kaffeehaus im Auge hat. Eine übergewichtige ältere Dame in einem sehr engen gelben Pulli bestellt ein Achtel Weißen, das ist ein kleines Glas Weißwein der Hausmarke. An einem kleinen Tisch wird bereits Karten gespielt. Die vier Männer haben die Tischplatte umgedreht, sodass die grüne Filzseite oben liegt. Gerade ist auch der erste Billardspieler reingekommen. Er trägt sein Queue in einem schicken Lederfutteral wie ein Jäger die Büchse über der Schulter.

Langsam wird es Zeit für den Lunch. Oder für das Mittagessen, wie man in Wien sagt. Aber das gibt es im Kaffeehaus nicht, erklärt mir Vlastimir. »Ein richtiges Mittagessen haben wir nicht. Es gibt Toast mit Ketchup, Frankfurter mit Senf und Meerrettich, verschiedene Suppen, Käse- und Wurstbrote, Salzbrezeln, Kleinigkeiten eben. Wenn ich Ihnen etwas empfehlen dürfte, wäre das die Gulaschsuppe. Die ist wirklich gut.« Ich wähle also Gulaschsuppe und ein Glas Grünen Veltliner – das ist Wiens eigener Wein.

Der Mann am Nachbartisch bestellt Rührei. Vlastimir schlägt sofort vor, der Gast solle stattdessen ein Gericht wählen, bei dem zwei Spiegeleier auf einem dicken Stück Schinken liegen. Das nennt er Hermann Decks oder so ähnlich. Der Gast überlegt lange. Dann gesteht er, er habe nicht verstanden: Wie heißt das Gericht? Vlastimir deutet auf die fettige, halb zerrissene Fotokopie in einer Plastikhülle, die als Speisekarte dient. Ham and eggs, steht da.

Meine Gulaschsuppe wird mit Salz und Pfeffer serviert sowie mit Paprika, falls ich sie schärfer haben will. Das Essen ist einfach, schmeckt aber wirklich gut. Vor allem, wenn man die leicht spiralförmig gedrehte Wiener Semmel in die dicke rote Suppe tunkt.

13.30

»Dürfte ich bitte kassieren? Mein Dienst ist zu Ende, wissen Sie. Ich gehe bald nach Hause«, sagt Vlastimir. Mein vergnügter Ober hat seit dem frühen Morgen gearbeitet – das Weidinger öffnet wochentags um sieben Uhr. Vlastimir legt eine Rechnung vor, zierlich von Hand geschrieben. Als ich mit einem großen Hundert-Euro-Schein bezahle, zählt er mir sorgfältig das Wechselgeld vor. »Das war auf fünfzig, auf achtzig und auf … eine Million!«

Vlastimirs Ablösung ist älter, grauhaarig, mit klarem Seitenscheitel. Seine Lesebrille hängt an einer Schnur auf dem kleinen Bauch unter der Weste. Er geht mit wiegenden, fast hüpfenden Schritten. Vlastimir war eher ein schwingender Typ, er schwenkte seinen Körper von einer Seite zur anderen. Das entdecke ich aber erst jetzt, weil ich mich auf einen neuen Ober einstellen muss, eine neue Art, eine neue Kadenz.

Ringsum essen nun immer mehr Gäste. Sie bekommen Hühnersuppe, Schinkenbrot oder eine Art Pastete mit Nüssen. Am Tisch neben dem Kartentisch, an dem sich inzwischen mehr als zehn Männer versammelt haben, sitzt ein dicker älterer Mann. Ihm bringt der Ober zwei Spiegeleier und zwei dicke gebratene Würste. Eine Mutter ist mit ihrer Tochter gekommen, beide Kettenraucher. Die Haare der Mutter sind rot, fast lila gefärbt, die Tochter hat ihre selbst gebleicht, sie haben einen klaren, uringelben Farbton. Um mich herum wird Orangensaft mit Mineralwasser getrunken, Eistee, Kaffee in allen Variationen, Bier vom Fass oder Weißwein aus der Region. Eine gut aussehende Blondine mit einem Mund wie Meryl Streep isst Frankfurter mit Meerrettich und Senf. In Wien werden Frankfurter immer paarweise serviert, sie hängen am gedrehten Darm zusammen. Hängen sie nicht zusammen, darf man sie zurückgehen lassen. Das gilt auch, wenn sie nicht dampfend heiß serviert werden.

Nach vierzehn Uhr kommt ein junger Typ herein und stellt seinen Apple-Computer auf. Das ist heute der Erste. In vielen Wiener Kaffeehäusern ist der Zugang zum Internet gratis, nicht so im Café Weidinger. Die Telefonnummer, die auf der mindestens dreißig Jahre alten Streichholzschachtel steht, hat nur sechs Ziffern und die sind alle durchgestrichen – die Nummer gilt längst nicht mehr.

14.30

Einer der Männer am Kartentisch hustet entsetzlich. Der Rauch macht sich immer stärker bemerkbar. Fast alle rauchen Zigaretten. Ich bin nach einem kleinen Spaziergang ums Karree gerade zurückgekommen. Ich musste dringend frische Luft schnappen.

Bei meinem Spaziergang bin ich an einem Döner-Imbiss vorbeigekommen und an Läden, die für billiges Telefonieren Reklame machen. Ein Geschäft verkauft Bollywood-Kleider für kleine Mädchen, ein anderes exotisches Gemüse und importierte Lebensmittel. Es gibt auch ein Bordell, wo man sich seine Sünde nach Fotos in Glaskästen aussuchen kann. Cathy spielt auf ihrem Foto mit einer leeren Champagnerflasche, man findet sie in Zimmer drei, Treppe vier. Das Café Weidinger klammert sich quasi an den 16. Wiener Bezirk, an Ottakring. Hier leben Einwandererfamilien und viele Studenten. Das Café liegt am Lerchenfelder Gürtel, unter anderem berühmt für Prostitution: Die Frauen werden in Schaufenstern angeboten, ein bisschen wie in Amsterdam.

Im Café Weidinger ist die Stimmung dennoch unmissverständlich österreichisch. Die Türken gehen in ihre eigenen Clubs, und nicht alle Studenten haben genug Geld, um hierher zu kommen. Die älteren Männer und die Frauen mittleren Alters dagegen scheinen hier zu wohnen.

Bevor ich mir die dritte Tasse Kaffee des Tages bestelle, muss ich noch etwas anderes erledigen, das pressiert. Ich gehe am Kartentisch und am Billardtisch vorbei zur Kellertür, wo die einst berühmte Kegelbahn des Kaffeehauses Weidinger im Dunkeln vor sich hin dämmert. Hinter der Tür, an der Herren steht, erwartet mich ein völlig deplatzierter Toilettensitz, gelb mit blauen Sternen. An der Wand quillt ein Metallaschenbecher vor Kippen über. Die Tür vor mir ziert das einzige Graffito der Toilette. R + D steht dort in einem schiefen Herz, das jemand ungeschickt gezeichnet hat. Wände und Decke sind cremefarben, die Farbe blättert ab. Die Kacheln sind weiß und von einer Borte kleinerer brauner Kacheln gesäumt, so gut wie alle Kacheln haben einen Sprung. Vor der Toilette dient ein emailliertes Waschbecken mit Kaltwasserhahn der Hygiene. Dort gibt es einige Aufkleber: Space Invaders Against Homophobia. Und: Proletarische Revolution.

»Eine Melange bitte«, sage ich zu dem neuen Ober. Während die Espressomaschine zischt und faucht, betrachte ich die Broschüren, die ich aus dem Gestell neben der Küche genommen habe, wo eine ältere Frau gerade Käsebrote für die Kartenspieler schmiert. Im Möbel Museum Wien gibt es eine Ausstellung ganz gewöhnlicher Ikea-Möbel. Im Jahresprogramm der Spanischen Hofreitschule kann man lesen, dass ein Platz in der ersten Reihe, mit freiem Blick auf die schönen weißen Pferde fast 200 Euro kostet. Die Volksoper Wien spielt von allem etwas: Carmen, La Traviata, Die Fledermaus, Der Nussknacker, Tosca, My Fair Lady. In der Kunsthalle Albertina wird Andy Warhols letzte Malserie gezeigt, verschiedene Versionen von Autos.

15.30

Gleich schlafe ich ein. Ich war gestern lange auf, um eine andere Seite Wiens zu erleben – Underground Techno. Auch der Kaffee hilft nicht mehr so richtig. Ich lese über Wiener Kaffeehäuser und ihre Wirkung auf die österreichische Literatur. Ich muss einräumen: Ein Zusammenhang ist da.

Am Nebentisch zischelt ein Mann in gestreiftem Hemd leise fluchend seiner Frau zu, es könne doch verdammt noch mal nicht sein, dass dieser Intellektuelle da drüben, der ganz in Schwarz mit dem weißen Halstuch auf der anderen Seite des Cafés, so lange mit dem Falter dasitzen kann! Der Falter ist die Wochenzeitung der Kulturelite, wo die Kritiker wirklich knallhart loslegen. Doch im Weidinger gibt es vom Falter nur ein Exemplar.

Mir schräg gegenüber sitzt ein Mann, dessen Körper an einen Sack Kartoffeln erinnert, aber was ihm an körperlicher Schönheit fehlt, macht er vermutlich durch das wett, was er zwischen den Ohren hat. Vor ihm liegt ein Backstein von einem Roman, in dem er liest, während er raucht wie ein Industrieschornstein und Quarkstrudel auf sein blaues Hemd kleckert. Nach einer halben Stunde bin ich überzeugt, dass er eher ein Psychiatriepatient ist als ein Intellektueller. Alle fünf Mi- nuten schläft er ein, verbrennt sich an der Zigarette die Finger, wacht auf, liest ein bisschen, schläft wieder ein. Der Kaffee scheint ihm ebenfalls nicht zu helfen.

Ein Paar kommt herein, der Mann tätowiert, die Frau kann nicht allein stehen. Sie haben wohl schon den ganzen Tag getrunken. Der Ober runzelt nicht mal die Stirn, er bringt beiden ein großes Bier. Ich darf kein Bier trinken, ich brauche etwas, das mich weckt. Vielleicht brauche ich Zucker! »Einen Apfelstrudel und noch eine Melange«, sage ich zu dem neuen Ober. Er heißt Franz. »Mit Nachnamen Luxl«, erklärt er. »Das ist ein deutscher Name, der bedeutet Licht. Ich komme aus dem Norden, wissen Sie.« Widerstrebend enthüllt er, dass er 59 ist. Er fragt, ob ich den Strudel warm oder kalt möchte. Ich nehme warmen und bekomme den mit Puderzucker bestäubten Strudel auf einem schönen kleinen Glasteller. Der Zucker hilft tatsächlich.

Ich blättere in meinen mitgebrachten Büchern. Wenn man Kaffeehaus sagt, spricht man auch von Hugo von Hofmannsthal, Adolf Loos, Arthur Schnitzler, Peter Torberg, Stefan Zweig, Karl Kraus, Anton Kuhn, Milan Dubrovnic, André Heller, Ulrich Weinzierl… Wer weiß? Vielleicht schaute auch Sigmund Freud Zigarren rauchend mal vorbei?

16.30

Und so sitze ich hier. In einem Wiener Wohnzimmer, wo Platz ist für alle, physisch Angeschlagene und psychisch Kranke, die intellektuelle Elite und Trunkenbolde, Freundinnen und strebsame Schreiberlinge.

17.30

Ich habe genug vom Entspannen. Ich möchte frei haben von der Arbeit im Kaffeehaus, damit ich etwas tun kann. Ich möchte einen langen Spaziergang an der Ringstraße unternehmen, Der Dritte Mann in einer alten, knisternden Schwarzweiß-Version sehen oder vielleicht ins Museum gehen und einige spektakuläre Kunstwerke anschauen, angehäuft nur wenige Hundert Meter entfernt von dem Balkon, wo Hitler zum Jubel der Volksmassen Österreich sein Heim ins Reich anbot.

Aber vorher brauche ich noch etwas, um mich zu stärken. Ich bestelle Frankfurter mit Senf und frisch geriebenem Meerrettich und stelle fest, dass die krasse Intensität des Meerrettichs hilft, von der Schärfe des Senfs abzulenken, sodass man ihn besser schmecken kann. Beides spüle ich mit einem Ottakringer hinunter.
Als ich das Café Weidinger verlasse, ist es ein Gefühl, als ginge ich von zu Hause weg, als blieben ein paar entfernte Verwandte zurück. Das hat etwas Sentimentales. Aber das macht nichts. Denn morgen muss ich wieder in eines der vielen Wohnzimmer Wiens, um eine Tasse Kaffee zu trinken und die Zeitung zu lesen.

  • Café Weidinger
  • Lerchenfelder Gürtel 1
  • 1160 Wien
  • Telefon: +43 1/492 07 02
Übersetzung: Sigrid Engeler
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  1. Es gibt im Weidinger zum Glück kein Ottakringer Bier. Das Gösser ist leider auch kein Vergnügen (für mich Münchner, der ich Stammgast im Weidinger bin. Aber ich schluck’s halt. Passt schon.) Das Weidinger ist ein magischer Ort für mich, sowas gibt es in München leider, leider gar nicht… Ich liebe es seit Jahren – und freue mich schon aufs nächste Mal, vor allem, weil ich im jetzt ehemaligen Raucherbereich endlich nicht mehr gselcht werd!

Aus Effilee #13, Nov/Dez 2010
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