In der Luft hing ständig die Drohung von Gewalt, als ich mit 13 Jahren Richard Aczel auf dem Gymnasium in einem langweiligen Vorort Londons kennenlernte. Die meiste Zeit war das Bedrohliche nicht greifbar, doch manchmal wurden gruselige Gewalttaten direkt vor meinen Augen verübt. Eher introvertiert und schwächlich, versuchte ich als Einzelgänger, unbeschadet durch dieses Labyrinth der Gefahren zu finden. Richard dagegen war körperlich und geistig stark, er schien nie Angst zu haben und kam mit allen gut aus, ohne zu einer der Schulmeuten zu gehören.
Richard und ich waren begeisterte Mitglieder der Theatergruppe, die für mich damals der einzige Ausweg aus meinem aus Angst und unterdrückter Aggression gebauten Schneckenhaus war. Auf der Bühne fühlten wir uns wohl, und so kamen wir uns näher. Ich erfuhr, dass Richards Vater 1950 aus Ungarn geflohen war - seine Entschlossenheit war durch eine Gefängnisstrafe für seinen ersten Fluchtversuch nur gestärkt worden. Er war eine Art Pionier: 1956 flüchtete eine Viertelmillion seiner Landsleute, bevor die Russen einmarschierten. Als Flüchtling lernte er in Australien Richards englische Mutter kennen und folgte ihr nach London. Für mich nahm der Kalte Krieg mit dieser Geschichte plötzlich grausam harte Umrisse an.
Seine Herkunft war eine Erklärung für Richards ungewöhnlichen Familiennamen, vielleicht auch für seine Art. Andererseits war er von englischer Literatur besessen, vor allem von Shakespeare und Dickens, Autoren, die die englische Kultur definieren. Auch ich wollte schreiben, aber meine Versuche scheiterten kläglich, und so entschied ich mich mit 17 für die Malerei. Mit der Zeit drifteten wir auseinander.
Berlin lernte ich erst nach dem Mauerfall kennen. Mit dem Thema Wein war ich dem Schreiben näher gekommen, und nach und nach entdeckte ich in Berlin die edelsüßen Weine aus Tokaj. Vor etwa zehn Jahren hatte ich eine geschmackliche Erleuchtung, als ich zum ersten Mal einen Tokaji Aszu von Istvan Szepsy verkostete. Doch selbst da zögerte ich, mich ausgiebiger damit zu befassen. Vor allem im Supermarkt begegneten mir auch andere ungarische Weine, doch sie fielen ausnahmslos in die Kategorie solide Ware, boten also keinen Stoff für die Art von gewagtem Gonzo-Weinjournalismus, den ich mir zum Ziel gesetzt hatte.
Eines Abends Anfang 2008 googelte ich aus Frust und Langeweile: Richard Aczel & englische Literatur. Zu meinem Erstaunen fand ich einen Professor Richard Aczel an der Uni Köln. Es gab kein Foto, aber eine E-Mail-Adresse, und so schrieb ich ihm einige Zeilen. Nach tagelangem Warten ohne Antwort schickte ich eine weitere Mail, befürchtete aber, mich vertan zu haben. Doch eines Abends klingelte das Telefon. Ich erkannte sofort Richards Stimme - aus irgendeinem Grund war seine Mail nicht bei mir gelandet. Alles, was Richard erzählte, interessierte mich brennend, und so versprach ich, ihn bald in Köln zu besuchen.
Ende Februar traf ich ihn in einem Kölner Vorort. Richard war deutlich schlanker als vor 29 Jahren und hatte weniger Haare. Er dagegen war sprachlos, weil ich aussah wie früher, obwohl ich schon lange keinen Bart mehr trage und mich auch wesentlich unkonventioneller kleide. Wir sprachen über alles Mögliche, vor allem über unser Leben in Deutschland und die englische Literatur. Seitdem habe ich Richard mehrmals getroffen, und wir verstehen uns besser als je zuvor.
Anfang Oktober 2008 bezog ich ein Zimmer in einer langweiligen WG in Rüdesheim am Rhein, um auf der Fachhochschule für Weinbau im benachbarten Geisenheim zwei Semester als Gasthörer zu studieren. Die ersten Tage im Vorlesungssaal waren schwierig, obwohl ich dem Stoff gut folgen konnte. Die Studenten betrachteten mich misstrauisch aus der Ferne, keiner wollte mit mir reden. Am vierten Tag sprach mich nach einer Vorlesung dann doch überraschend eine Gruppe an, zu der unter anderem Zoli Heimann gehörte, ein 20-Jähriger aus Szekszárd in Ungarn. Wir kamen uns schnell näher und über die Gruppe lernte ich viele andere Studenten kennen. Das Eis war gebrochen.
Eines Abends, als meine Frau zu Besuch in Geisenheim war, stellte uns Zoli in dem Studentenheim, in dem er wohnte, eine riesige Auswahl von Rotweinen seines Familienweinguts vor. Wir konnten deutlich schmecken, wie seine Mutter Ágnes die Weine von Jahr zu Jahr im Keller besser im Griff hatte und eine eigene Stilistik entwickelte. Am spannendsten war ein neuer Rotwein namens Barbár, eine verrückte Cuvée mit mächtigem Gerbstoff und viel Würze aus Merlot, Cabernet Franc, Tannat und Kékfrankos (der in Österreich Blaufränkisch und in Deutschland Lemberger heißt). Zoli erklärte uns, der Name gehe auf ein Klavierstück von Béla Bartók namens Allegro barbaro zurück. »Wie klingt das?« fragte jemand. Zoli hatte es so- fort auf dem Laptop parat. Die schrägen Töne beeindruckten uns genauso wie Zolis spontane Vorführung eines ungarischen Volkstanzes.
Anfang Mai 2009 nahm ich an einer von Zoli organisierten Exkursion nach Ungarn teil, auf der die Welt der ungarischen Weine für mich endlich klare Konturen anzunehmen begann. Zumindest glaubte ich halbwegs durchzublicken, bis wir in einem Budapester Vorort durch eine Billardhalle, ein Pizza-Restaurant und einen Fitnessclub irrten. In einem Separee des Gold Center, zu dem alle diese Unternehmungen gehörten, lernten wir dann den charismatischen, sehr entspannten Chef kennen.
József Szentesi erzählte uns von seinem Zweit- und Drittberuf als Weinhändler und Winzer. Danach folgte eine der erstaunlichsten Weinverkostungen meines Lebens. Die Weine stammten ausnahmslos aus autochthonen, also einheimischen, ungarischen Traubensorten, teils aus eigener Erzeugung, teils von befreundeten Winzern, deren Weine er vertrieb. Nicht nur waren die Weißweine ausnahmslos von beeindruckender Qualität: Mehrere erweiterten darüber hinaus meine Vorstellung von gutem Weißwein.
Hier entstand gerade ein Teil der Zukunft des ungarischen Weins, weitab des geschmacklichen Mainstreams und der gängigen Moden: Bis heute trinken die Mitglieder der neuen Budapester Oberschicht vorzugsweise dunkle, gerbstofflastige Cabernet-Rotweine aus Villány, einem angesagten Weinbaugebiet im Süden Ungarns. Diese neuen Statusweine lehnen sich nicht nur dank ihrer Rebsorten an Bordeaux an. Einige von ihnen sind wirklich gut, doch wird in vielen Ländern Ähnliches erzeugt.
Am letzten Tag der Ungarn-Exkursion waren wir bei Zoli in Szekszárd. An einem lauen Abend standen wir auf der großen Terrasse und tranken Wein. Ich blickte über die vom Mond beleuchteten, rebbedeckten Hügel und Täler oberhalb von Szekszárd und stellte fest, dass Ungarn nicht nur aus seinen berühmten Tiefebenen besteht. Ich versprach Zoli und seiner Familie zurückzukehren, um weiter den ungarischen Wein zu erforschen.
Mir war klar, dass ich mich, jenseits von Zolis Weinen, kaum mit ungarischem Kékfrankos auskannte. Ebenso war es Zoli bewusst, dass er viel zu wenig Erfahrung mit dem österreichischen Pendant hatte, den neuen Blaufränkisch-Rotweinen. Also beschlossen wir, kurz vor Weihnachten eine gemeinsame Ungarn-Österreich-Verkostungstour zu machen. Zoli holte mich am neuen Terminal des Budapester Flughafens ab, dann fuhren wir zum alten Terminal, um meine Frau und Roy Metzdorf vom Berliner Restaurant Weinstein zu treffen.
Während wir warteten, erkannte ich plötzlich einen Mann neben mir: József Szentesi! Was für eine freudige Überraschung. Szentesi erzählte uns, dass er auf eine sächsische Beraterin wartete, die ihm mit seinem Schaumwein-Projekt half, und fragte, ob wir in den folgenden Tagen Zeit hätten, seine neuen Still- und Schaumweine zu verkosten. Zoli versprach, sich bei Szentesi zu melden. Die Beraterin traf ein, gefolgt von Ursula und Roy, die angesichts des großen Empfangskomitees etwas verwirrt waren.
Drei Tage später fanden wir Szentesi Pince (Pince ist Ungarisch für Keller) erst nach einigen Schwierigkeiten: ein bescheidenes traditionelles Kellergebäude, das ziemlich verloren zwischen den Villen eines wohlhabenden Budapester Vororts steht. Szentesis Rajnai Rizling entpuppten sich für uns alle als eine große Überraschung. Warum hatte er sie uns damals im Gold Center nicht vorgestellt? »Da war das Thema einheimische Traubensorten!«, antwortete er und erzählte, dass die Rieslinge auf Granitböden nahe der Kleinstadt Nadap wüchsen, mit dem Auto eine Stunde südwestlich von Budapest. Der geologische Hinweis erklärte die schlanke, mineralische Art der Weine.
Gerne hätte ich einige Flaschen von seinem besten 2009 Riesling mitgenommen, aber der Bátyus, der Große Bruder, lag noch im Fass. Nur der 2009 Riesling Öcsi, der Kleine Bruder, war bereits abgefüllt. Ich bestellte ein paar Flaschen Großer Bruder und beschloss, bei nächster Gelegenheit eine davon mit Richard in Köln zu öffnen.
Am nächsten Tag fuhren wir von Budapest Richtung Osten ins Matra-Gebirge. Dort trafen wir auf einem Parkplatz neben der Kirche des Ortes Gyöngyös Pata Tamás Szecskő, Gábor Karner und Bálint Losonci, die uns die Weinberge des Ortes zeigten. Anschließend ging es zum Haus von Tamás Szecskő, um die Weine des Winzertrios zu kosten.
Im Sozialismus wurden die Winzer gezwungen, Weißweine zu produzieren - obwohl der blaue Kadarka hier eine große Tradition hat, ist sein Anbau bis heute verboten. Kékfrankos dagegen ist erlaubt, und so verkosteten wir einige beachtliche Rotweine, alle geprägt von einer kräutrigen Bergfrische, die gut zur Landschaft passt. »Szentesi vermarktet unsere Weine«, erklärte Losonci, der aufgrund seiner beruflichen Erfahrung und seiner Englischkenntnisse der Sprecher des Trios war. »Und wir mögen seine Weine sehr.«
Als wir uns später zum Essen setzten, stand plötzlich ein Glas Weißwein vor mir. »Was ist das?«, fragte mich Losonci, ein energischer junger Mann mit Halbglatze. Bisher war es warm im Wohnzimmer dieses kleinen Hauses, aber plötzlich war mir ziemlich kalt. Immerhin wurde der Wein von einem Winzer und ehemaligen Weinjournalisten eingeschenkt, sodass die Frage bohrender und fordernder klang, als sie von einem alten Freund gekommen wäre. Und nach dem Blick meines Gastgebers zu schließen, erwartete er schnell eine Antwort.
Die Idee ist immer dieselbe: Errät der Experte korrekt die Identität des Weines, hält man ihn für einen Superhelden, schafft er es dagegen nicht, ist er ein verdammter Gauner. Dabei stehen die Chancen bei Blindproben grundsätzlich schlecht, sie sind selbst für die geübtesten Weinverkoster von den Begleitumständen abhängig. Etwas verlegen schaute ich mich im Raum um, betrachtete die Schrank- wand voller Weingläser, Familienfotos und einem Porzellankreuz, sah dann aus dem Fenster auf die verlassene Dorfstraße, wo es heftig schneite.
Als ich schließlich an dem Wein roch, machte es aber sofort klick. Der erste Schluck bestätigte meine Vermutung, ein Gefühl der Erleichterung breitete sich in mir aus. »Das ist ein trockener Riesling von Szentesi«, sagte ich. »Und weil er so frisch schmeckt, muss es der 2009 Kleiner Bruder sein.“
»Sie haben recht!«, sagte Bálint Losonci. »Wie ist das möglich?« »Ganz einfach. Ich habe ihn erkannt. Gestern waren wir bei Szentesi im Keller und haben den Wein verkostet.« Das ist der übliche Grund für den Erfolg von Weinexperten in solchen Situationen: Was man kennt, kann man auch erkennen. Und da wird es mir schlagartig klar: Endlich bin ich in Ungarn angekommen. Endlich bin ich mehr als ein unbeteiligter Beobachter.
Foto: Andrea Thode
aus Effilee #15, März/April 2011
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