Pidan: die wundersame Verwandlung der Eier

Die Tausenjährigen Eier sind von zahllosen Legenden umrankt und von Sagen umwoben. Sie gelten als letztes Mysterium der echten chinesischen Küche und größtmögliche kulinarische Herausforderung für europäische Gaumen. Unsere Autorin hat sie einfach mal probiert

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Banal sieht anders aus: Hier liegen die juwelenartigen Gebilde auf Tofu

Der runde cremige Kern wirkte mit seinen Schattierungen von graugrünem Jade bis zu Anthrazitschwarz so geheimnisvoll wie die Glasur mancher antiker chinesischer Gefäße, in deren dichter Dunkelheit sich Blick und Gedanken verlieren. Er war von einem glasklaren Braun umhüllt, das an alte Weinflaschen erinnerte. Meine erste Begegnung mit den Pidan fand im September 2006 in Oxford statt, als Eier Thema eines Symposiums waren. Innerlich war ich aufs Schlimmste gefasst. Diese chinesischen Eier waren sicher nicht tausendjährig, aber zweifelsfrei doch länger gelagert als das gängige westliche Frühstücksei, und ich befürchtete etwas in der Art von Surströmming, dem in der Dose vergorenen schwedischen Hering. Doch als ein Teller mit den beinahe juwelenartigen Gebilden zum Verkosten durch die Reihen ging, war das alles wie weggeblasen. Diese wunderschönen Ovale waren in der Tat grundlegend verwandelt, und ich fühlte mich wie Audrey Hepburn bei Tiffany’s – mit einem Unterschied: Das neue Objekt meiner Begierde war weder ruinös teuer, noch lag es unter Glas. Das äußere Gelee war fester und elastischer als bei einem gekochten Ei, der Geruch extrem würzig, urtümlich, aber nicht aufdringlich, ein wenig schwefelig. Die größte Überraschung war der Dotter: cremig und körnig zugleich, erinnerte er an sehr weiches Marzipan und der extrem konzentrierte Eigeschmack beinahe an sehr gut abgehangenes Wildfleisch oder Leber.
Bereits die westlichen Bezeichnungen für diese verwandelten Eier entlarven unsere Vorurteile: Tausendjährige oder Jahrhundert-Eier nennen wir sie. In China selbst heißen sie Pidan, was wörtlich übersetzt Haut-Eier bedeutet und auf die Herstellungsmethode verweist. Die Eier werden nämlich rundum mit einer alkalischen Paste aus Soda, Kalkerde, Salz und Asche ummantelt, der oft auch Teeblätter oder Reisspelzen zugesetzt werden, und dann ein bis drei Monate gelagert. Durch die poröse Schale gart das Eiweiß, und der pH-Wert steigt von etwa 9 auf 12. Dabei zersetzen sich Proteine und Fett zu einfacheren, intensiv aromatischen Bestandteilen, und die Eier sind bis zu einem Jahr ohne Kühlung haltbar. Unmittelbar nach dem Schälen und Halbieren können Pidan sehr intensiv nach Schwefel und Ammoniak riechen, ähnlich wie zu lange gekochte Eier (deren dünner grünblauer Rand ums Eigelb einen ersten Anflug des Pidan-Prozesses darstellt), doch dieses Aroma verfliegt nach einigen Minuten.

In der Regel werden für Pidan Enteneier verarbeitet, die im südlichen China traditionell eine große Rolle spielen. Hühnereier gelten als weniger aromatisch, seit einiger Zeit werden aber auch Wachtel-Pidan angeboten. In früheren Zeiten waren Eier in China relativ teuer, und ursprünglich ging es sicher darum, saisonale Überschüsse haltbar zu machen. Wie nicht anders zu erwarten, ranken sich um ihre Entstehung aber auch eine Reihe von Legenden: Ein Teehausbesitzer habe seine Teeblätter zusammen mit der Asche aus dem Ofen hinterm Haus gesammelt, auf der dann wiederum seine Enten bevorzugt geschlafen und Eier gelegt hätten, von denen er manche vergessen habe … Eine andere Version erzählt von einem Bauern, der während Bauarbeiten Kalk gelagert habe und Enten hielt. Die frühesten schriftlichen Erwähnungen stammen aus der frühen Ming-Zeit Anfang des 16. Jahrhunderts. Dort wird beschrieben, wie verschiedene Aschesorten zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Eine Quelle aus dem 17. Jahrhundert meint, Pidan seien aus den noch älteren eingesalzenen Enteneiern entstanden, als man die ausgekochte Rinde eines bestimmten Baumes verwandt habe, um die Eier gleichzeitig rot zu färben. Diese Farbe gilt in China als Glück bringend und vertreibt böse Geister.
Ich verdrängte meine Pidan-Begeisterung lange Zeit und sehr erfolgreich und sträubte mich auch gegen eine Reise nach China. Doch die verwandelten Eier arbeiteten beharrlich daran, mich zu ihrem Ursprung zu locken. Sie ließen Jianhua Wu und seine Frau ein Restaurant im Berliner Westen übernehmen und ihn dort seiner Leidenschaft frönen: chinesische Küche aus Sichuan, Jiangsu und Shanghai zu gutem Wein. Unweigerlich fand ich zusammen mit meinem weinschreibenden Mann den Weg dorthin. Nach wiederholten Besuchen tauchten die Pidan eines Abends beinahe verstohlen als Vorspeisentellerchen auf, mit ein wenig Ingwer. Ich fühlte mich, als hätte ich ein verlorenes und längst abgeschriebenes Schmuckstück wiedergefunden. Als das nächste Mal die Möglichkeit einer Reise nach China zur Sprache kam, noch dazu Wu in seiner Heimatstadt Shanghai für uns Fremdenführer spielen wollte, war ich bereit.
Wenige Wochen später lief ich mit meinem Mann durch eine Marktstraße in Hongkong, dem ersten Teil unserer Reise. Wir aßen im Tasty, einem Wantan- und Congee-Restaurant in der IFC Mall. Congee ist Reissuppe, die es in Variationen in ganz Südostasien gibt. Ich kannte sie vom Frühstück in Thailand, hier gab es sie mit Pidan. Durch die schleimige Konsistenz der Suppe hätte ich die Eier-Juwelen kaum wiedererkannt. Zu spät entdeckte ich auf der Karte in Sechstel geschnittene Pidan, wie bei Wu in Berlin blütenförmig arrangiert mit Ingwer in der Mitte und sicher etwas Essig. Laut einem Gastronomen aus Hongkong passt dazu besonders gut Shiraz – ich habe das inzwischen zu Hause ausprobiert, und Frucht, Alkohol und Gerbstoff vertrugen sich tatsächlich bestens mit Eiwürze, Essigsäure und der süßen Ingwerschärfe. Ich befragte einen der erfolgreichsten Weinhändler der Stadt zum Thema Pidan. Ein- oder zweimal im Jahr äße er sie aus Tradition, sagte er, wirkte dabei aber sichtlich befremdet und etwas pikiert. Pidan seien altmodisch und bäuerlich, fügte er hinzu. Dann flogen wir weiter nach Shanghai, trafen unseren Freund, und die große kulinarische China-Odyssee begann. Wir waren auch in Museen und besichtigten Tempel und Pagoden. Aber je länger wir zusammen unterwegs waren, desto mehr schienen mir die Tage wie ein einziges, langes Essen. Das meiste davon war schlichtweg köstlich. Und ja, natürlich, manches war ungewohnt. Spatzenmägen und Hund, Hühnerfüße und Schildkröten, wir haben alles erlebt.

Viele Restaurants boten Pidan, die im Gegensatz zu normal gegarten Eiern als appetitanregend und kühlend gelten, als Vorspeise an, und ich versuchte immer, sie zu der langen Liste von Gerichten hinzuzufügen, die Wu sowieso schon bestellte. Im Restaurant Guyi mit New Hunan Cuisine in Shanghai aßen wir Pidan-Sechstel mit eingelegten roten Paprikastreifen und fein gehackten, gesalzenen schwarzen Bohnen mit etwas Sojasauce, Essig und Knoblauch sowie ein paar Tropfen Sesamöl. Die räucherigen spanischen Paprika, die hierzulande in Dosen erhältlich sind, eignen sich gut dafür, und der dunkle, malzige braune Chinkiang-Reisessig lässt sich zur Not durch Balsamico ersetzen. Im Sichuan-Restaurant Spicy Joint gab es grob gehackte Pidan auf Seidentofu in Sojasauce mit wenig Chili, Sesam, Sesamöl und frischem Koriander (angeblich taiwanisch), außerdem ganze Wachtel-Pidan mit reichlich klein geschnittenem, eher milden grünen Chili in Sojasauce (tatsächlich Sichuan).
Pidan lassen sich mit Blauschimmelkäse vergleichen; verschimmelte Milch ist eine ziemlich abstoßende Vorstellung, aber lecker. Chinesische Geschmacksnerven reagieren auf Käse meist grundsätzlich ablehnend, obgleich nicht nur Pidan, sondern auch gereifter Tofu blind verkostet sehr ähnlich schmecken können. Die kulinarischen Begrenztheiten erstrecken sich nicht nur von West nach Ost, und entgegen oft zitierten Klischees essen selbst Chinesen nicht alles. Die britisch-chinesische Journalistin Xinran meint: »Chinas fünftausendjährige Geschichte, seine reiche Kunst und Kultur und seine Bevölkerung reduzieren sich bei einem Großteil der Europäer und Amerikaner auf folgendes ›China-Wissen‹: Chinesische Imbissküche, Stäbchen, grüner Tee und die Kulturrevolution Maos. Auch wenn man uns nicht mehr als Menschen mit langen Zöpfen oder als ein Volk, das nur Fahrrad fahren kann, sieht, haben die Leute doch nicht die geringste Ahnung, was wir Chinesen in den letzten hundert Jahren durchgemacht haben und warum wir ein so andersartiges System und Bewusstsein haben.« Sie plädiert in all ihren Büchern dafür, sich unvoreingenommen von etablierten Vorstellungen von richtig und falsch zu lösen. Pidan sind nur ein winziges Bruchstück des großen chinesischen Puzzlespiels, doch sie fordern genau diese Offenheit. Sie sind nicht vergammelt, sondern anders, und wer ihnen so verfällt wie ich, dem offenbaren sie eine neue Welt.

Text: Ursula Heinzelmann Foto: Andrea Thode
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Aus Effilee #21, Sommer 2012
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