Große Kunst aus kleinen Küchen

Die Hawker Centre in Singapur sind die richtige Anlaufstelle, um die asiatische Küche zu testen

Wer in Singapur gut essen will, muss keine Restaurantführer studieren oder den neuesten Tipps nachrennen. Es reicht, an der nächsten Ecke in eines der Hawker Centre zu gehen, Imbisszentren, in denen manchmal an einigen Dutzend, manchmal an mehreren Hundert Ständen ein Querschnitt durch die asiatische Küche angeboten wird. Chinesische, indische oder malaiische Gerichte, Nudeln, Suppen, Meeresfrüchte, Gegrilltes. Pure Ekstase für Gourmets des Alltags.

Foto: Roger Stilz; Lizenzvereinbarung: Nutzung nur auf Effilee
Shen Tan krönt ein Gericht mit malaiischen Ikan Billis, frittierten Anchovis

Shen Tan wird von ihren Freunden schlicht für verrückt gehalten. Die 37-jährige Chinesin gab im Sommer 2009 ihre lukrative Stelle als Eventmanagerin auf und steht seither sechs Tage die Woche für elf Stunden in ihrem Imbiss Madam Tan’s Nasi Lemak. Denn Shen Tan liebt es, zu kochen – und so wurde sie ein Hawker.

Das Hawking, der Betrieb von ursprünglich mobilen Garküchen, hat in Singapur eine lange Tradition. 15 000 Hawker gibt es heute in dem Stadtstaat, 24000 waren es Ende der 60er-Jahre. Die Frau mit dem freundlichen Lächeln ist eine Vertreterin der modernen Generation: Ihren Blackberry hat sie immer griff bereit, den Kopfhörer stets im Ohr. Ihr Stand befindet sich im Maxwell Food Centre, das seit 1935 existiert und in dem heute 106 Imbissstände in zwei langen Reihen um Kunden kämpfen.

Tans Revier ist gerade so groß, dass sie darin in alle Himmelsrichtungen einen Schritt machen kann. Grelle Neonröhren an der zwei Meter hohen Decke, Alu-Ablagen vor beigen Kacheln. An der Theke kleben Zeitungsartikel über ihren Stand. »Es ist ein anderes Kochen auf so engem Raum«, erklärt sie. Trotzdem ist das Leben als Hawker für sie eine Möglichkeit, ihrer Leidenschaft nachzugehen. Sie bietet eigene Kreationen an, die von der malaiischen und chinesischen Küche beeinflusst sind, und natürlich Nasi Lemak, malaiischen Kokosreis. Frische, Geschmack und Kreativität, sagt sie, seien für sie entscheidend.

Das klingt wie Reklame – und ist es wohl auch. Tan träumt von einem Food Empire, das sie systematisch auf bauen will: »Ich wollte nicht von der Laufkundschaft abhängig sein, deshalb habe ich von Anfang an einen Bestellservice für Unternehmen angeboten.« Sie hat eine Internetseite und stellt sich mit selbst entworfenen Flyern an die U-Bahn-Station – Tan weiß aus Erfahrung, wo die Geschäftsleute vorbeikommen. Ihr Laden läuft inzwischen gut, sie hat in verhältnismäßig kurzer Zeit eine Stammkundschaft gewinnen können. Sie hat Erfolg und scheint ihre Arbeit zu genießen.

Im Vergleich zu den Imbissen in anderen asiatischen Ländern sind die Stände von Tan und ihren Kollegen auffällig aufgeräumt und sauber. Dafür sorgt die staatliche National Environment Agency, die die 109 Hawker-Zentren betreibt, Schulungen veranstaltet und jeden Hawker mindestens einmal im Jahr überprüft. Das passt zu dem Bild, das Europäer von der ostasiatischen Metropole haben, die so angestrengt westlich anmutet: Kein Dreck auf der Straße, alles ordentlich und fein, auch wenn auf einer Größe von 700 Quadratkilometern, also etwa der Fläche von Hamburg, rund 4,8 Millionen Menschen leben.

Doch das war nicht immer so – und schon gar nicht bei den Hawkern. To hawk heißt verhökern, verscherbeln oder auf der Straße verkaufen, und genau darum ging es damals, in den 50er- und frühen 60er-Jahren, als die Hawker zu einem Massenphänomen wurden. Es ging um den schnellen, kleinen Verdienst, viele waren arbeitslos, die Armut war groß, und so taten die Menschen, was sie konnten: Sie kochten und verkauften ihre Speisen in kleinen Gassen. Die kulinarische Vielfalt hatte allerdings eine dunkle Seite: In den Küchen herrschten teilweise verheerende hygienische Verhältnisse, nicht zuletzt wegen der oft mangelhaften Wasserversorgung.

Ab 1968 ließ der so strikte wie weitsichtige Premierminister Lee Kuan Yew, der Singapur 1963 in die Unabhängigkeit geführt hatte, die Hawker registrieren und umsiedeln. Anfangs wurden die Stände auf Parkplätzen und anderen Freiflächen untergebracht, ab 1971 begann man mit dem Bau der Hawker-Zentren. 1985 wurde der letzte freie Hawker umgesiedelt. Der Kampf ums Überleben war damit jedoch nicht vorbei – er begann erst.

Andy Sin kann seine müden Augen nicht verleugnen. Angeschwollen sind sie von wenig Schlaf, Dunst und Dampf. Es ist stickig und eng im Stand des 35-Jährigen, auf dessen Stirn sich Schweißperlen sammeln. Der Ventilator sieht aus wie an die Wand geklebt. Kaum hat Sin den Menüwunsch entgegengenommen, spritzt das Öl, die Schüsseln klappern. Nach kurzer Zeit, wenn der Wok von der seitlich emporzüngelnden Gasflamme rundum heiß geworden ist, schöpft er das überflüssige Fett ab. Die Zutaten fliegen in die Pfanne. Sins Tempo ist beeindruckend. Denn jeder Teller zählt, bedeutet bares Geld.

»Ich will aufhören, wenn ich genug Geld habe«, sagt Sin ironisch. Er weiß, wie schwierig das ist. Die Teller türmen sich. Wenn drinnen kein Platz mehr für das dreckige Geschirr ist, wird vor dem Eingang weiter gestapelt. Spätabends oder nachts, wird weggeräumt. »Wir sind es gewohnt, für unser Geld hart zu arbeiten«, sagt Sin und variiert damit ein Motto Singapurs: »Always go shopping, never stop working.«

Morgens, mittags, abends, nachts: Singapur lebt – und die Singapurer essen. Dabei geht es nicht nur darum, den Hunger zu stillen. Essen ist ein soziales Erlebnis, ganze Großfamilien drängen sich um einen runden, knallroten Plastiktisch, manche Hawker sind regelrechte Treffpunkte. Und weil die Singapurer anspruchsvolle Gaumen haben, ist die Qualität fast überall bemerkenswert gut – wenn das Essen nicht schmeckt, spricht es sich sofort rum und der Stand ist erledigt.

Doch Qualität muss nicht teuer sein. Bei Andy Sin gibt es San Lao Hor Fun, weiße, mitteldicke Nudeln mit geschnittenem Fisch, für 4 Singapur- Dollar (etwa 2,40 Euro). Der preiswerteste Teller, Fried Bee Hoon, dünne Bratnudeln, kostet 3,20 Singapur-Dollar, das teuerste Gericht Fried Rice Cai Xin with Shrimps, gebratenes Gemüse mit Krabben, 6 Singapur-Dollar. Und alles wird serviert in schönen grasgrünen, tief blauen oder lila Tellern und Schalen.

Eine große Liebe zum Detail zeichnet auch den Stand der chinesischen Brüder Steve und Hock Edge Sim aus. Ihr Laden wirkt vielleicht etwas abgerockt – das Essen ist es nicht. »Kochen ist Kunst. Ja, Kochen ist wie ein Bild malen«, sagt Steve Sim, der ältere der beiden. Man müsse nicht nur besser sein als der Durchschnitt, auch das Feintuning sei entscheidend. Denn: »Kochen kann in Singapur jeder.«

Die beiden müssen es wissen, schließlich bereiten sie schon seit 26 Jahren ihre Nudelvarianten zu. Urlaub haben sie nur selten, mit Glück alle fünf Jahre. Wer nicht geöffnet hat, verkauft nicht. »Kochen ist in Singapur ein großes Geschäft. Man muss stark sein, um dabeizubleiben. Und der Markt reguliert die Preise. Aber ich schätze die Regierung, die den Wettbewerb unterstützt«, sagt Steve Sim.

Foto: Roger Stilz; Lizenzvereinbarung: Nutzung nur auf Effilee
Eine typische Hawker-Küche

Singapurer mögen die Regierung, selbst wenn sie mit ihr nicht einverstanden sind. Das gehört sich so. Und den Wettbewerb finden ohnehin alle gut. Sicher, nicht jeder Hawker überlebt – dafür bleibt die Durchschnittsqualität hoch. Vor allem im Kampf um Stammgäste. »Wenn sich vor deinem Stand eine Schlange bildet, hast du den Nachbarn etwas voraus«, sagt Sim.

Die zum Teil recht ranzigen Buden sind aus dem ultramodernen Stadtstaat nicht wegzudenken. Sie sind eine Gegenwelt des Alltags zu der architektonisch schönen, aber auch unnahbaren Stadt auf den Plakaten der Tourismusindustrie. Hier zeigen sich die sonst so kontrollierten Singapurer spontan und offen. Hunger? Auf zum nächsten Hawker! Aus der Pfanne auf den Teller. Und dann mampfen ohne Etikette.

Man schlürft aus Schälchen auf billigem Gestühl. Und nicht zu vergessen: Man kann den Hawkern beim Kochen in die Pfanne gucken – das ist eine Liveshow, wie sie lebendiger kaum vorstellbar ist. Das gilt sogar für die Edel-Versionen der Hawker, die man in den Food Courts großer Einkaufszentren findet, wie etwa dem 313@Somerset. Dort befindet sich im ersten Stock ein Marché-Restaurant, eine Trattoria Cucina Italiana und sogar ein Lokal namens Brotzeit. Im fünften Stock aber warten 21 edel designte Hawker, die hier Food Stalls heißen. Dort betreibt die 24-jährige Chinesin Ding Dang das Yong Tau Foo, wo sie traditionelle chinesische Küche serviert, zu etwas höheren Preisen als auf den Straßenmärkten. Das Kochen, sagt sie, habe sie von ihren Eltern gelernt, ihre Spezialität ist gedämpftes Hühnchen. Die Welt der Hawker fasst sie kurz zusammen: »Essen ist Leben, Leben ist Essen. Und Singapur ist ein Spiegel dessen.«

Text: Peter Lau & Roger Stilz
Fotos: Roger Stilz

aus Effilee #15, März/April 2011

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