Fährt man von St. John’s gute vier Stunden nordwärts, kann man in Farewell eine Fähre weitere fünfundvierzig Minuten Richtung Nordosten nehmen: So kommt man nach Fogo Island. Dort leben heute etwa zweieinhalbtausend Menschen, die meisten von ihnen Nachfahren der Fischer, die sich hier wie vielerorts in Neufundland seit dem 17. Jahrhundert angesiedelt hatten und mit der Zeit das alte Volk der Beothuk verdrängten, das seit 1829 als ausgestorben gilt.
Die Fischer lebten vor allem vom Kabeljau, den es hier, wo der kalte Labradorstrom auf den warmen Golfstrom trifft, in großen Mengen gab. Als Entdecker John Cabot sich 1497 auf der Suche nach der Westpassage nach China mit seiner kleinen Flotte dem nordöstlichsten Zipfel Nordamerikas näherte, waren die Kabeljauschwärme so dicht, dass er nach England meldete, seine Schiffe hätten Schwierigkeiten voranzukommen. Kabeljau war schon damals weltweit gefragt, vor allem Engländer und Iren bedienten sich hier fortan reichlich, handelten ihn gesalzen und getrocknet als Klippfisch. Fünf Jahrhunderte lang orientierten sich Kultur, Wirtschaft, Sozialstrukturen der Neufundländer am Angeln, Fangen, Salzen, Trocknen - und dann waren sie weg, die Schwärme. Das hatte sich bereits Ende der 1960er abgezeichnet, war in den 1970ern kaum mehr zu ignorieren und wurde schließlich mit dem Fangmoratorium von 1992 besiegelt. Bis dahin war der Fisch ein Familien-Unternehmen gewesen, jeder hatte seine Aufgaben und trug Verantwortung. »Wenn das Wetter nicht hundertfünfzig Prozent zuverlässig aussah, mussten wir als Kinder in der Nähe bleiben, um den ausgebreiteten Fisch schnell vor dem Regen ins Trockene zu bringen«, erzählt Bruce Miller, der aus einer der Fischerfamilien stammt. Auch Kabeljauzungen, wie die Bäckchen eine wahre Delikatesse, wurden von den Kindern aus den Köpfen geschnitten. Aber bald tauchten draußen, viel weiter, als je ein neufundländischer Fischer in seinem kleinen Boot gefahren war, die Riesenfischkutter auf.
Zita Cobb, einundsechzig, mit kurzen grauen Haaren und wachen blauen Augen, agil und entschlossen, ist die achte Generation einer Familie von Fischern auf Fogo Island. Wie so viele andere hatte sie 1975 zusammen mit ihren Eltern, die ihre Existenz verloren hatten, die Insel verlassen. Sie, die immer nur segeln wollte, studierte Wirtschaftswissenschaften: »Mein Vater hatte gesagt: Es ist verrückt, Tag und Nacht zu fischen, die Fische haben keine Chance. Zita, du musst herausfinden, wie Geld funktioniert.« Was sie erfolgreich tat und Ende der 1990er in der Glasfaserindustrie Karriere machte: »Das waren die intensivsten Jahre meines Lebens. Wir konnten die Technik nicht schnell genug weiterentwickeln, deshalb mussten wir andere Firmen kaufen, und so schaffte unsere kleine kanadische Firma den Sprung in die Nasdaq, die größte elektronische Börse der USA.« Die Fischerstochter hatte ihre Mission erfüllt, stieg als Multimillionärin aus und ging fortan segeln.
Doch die Verbundenheit mit Neufundland und Fogo im Speziellen ließ sich nicht einfach kappen. 2001 lag sie im Hafen von Mustique in der Karibik vor Anker, als ein Nachbar aus Fogo anrief. Der Bürgermeister habe geschrieben, das Haus, das sie von ihrem Lieblingsonkel Art geerbt hatte, sei ein Schandfleck, da müsse etwas passieren. Sie dachte: »Ich habe Zeit und Geld. Wenn ich mein Haus nicht renoviere, wird es niemand tun.« Das war der eigentliche Beginn von Shorefast, wie Zita Cobb ihr Projekt nach dem Tauwerk genannt hat, mit dem Boote am Ufer befestigt werden. Die gemeinnützige Stiftung gehört den Bewohnern von Fogo, soll die Lebensqualität auf der Insel steigern und neue Impulse für die lokale Wirtschaft schaffen, auf nachhaltige, umwelt- und ressourcenschonende Weise.
Zuerst nahm sie nur ein paar oberflächliche Verschönerungen vor und segelte weiter. Doch 2006 zog sie zurück nach Fogo und begann sich nach der langen Abwesenheit wieder an die Menschen heranzutasten. Aubrey Payne, knapp siebzig und Fischer im Ruhestand auf Fogo Island, sagt: »Wir kannten sie eigentlich gar nicht. Als sie zurückkam wie die verlorene Tochter, mit dem vielen Geld, das war ziemlich einschüchternd.«
Zuerst renovierte sie Onkel Arts Haus nun von Grund auf, dann folgten eine Reihe anderer Anwesen. Das setzte nicht nur ein Zeichen, sondern gab den betreffenden Gemeinden auch ein gemeinsames Vorhaben, an dem sie arbeiten und ihr überliefertes Wissen einbringen konnten.
Sie überredete den Architekten Todd Saunders zur Zusammenarbeit, der in Norwegen lebte, dort einige unvergleichliche Bauten wie die Aussichtsplattform am Aurlandsfjord geschaffen hatte - und aus Neufundland stammte. Zunächst entstanden Künstlerateliers weit draußen am Ufer, dann das Hotel, das Fogo Island Inn. Wie alle Saunders-Bauten wirkt es spektakulär, schwebt auf Stelzen in der Landschaft und über dem Meer, ist ganz aus Holz erbaut und doch vollkommen modern.
»Mir war wichtig«, betont wiederum Zita Cobb, »dass der Tourismus nur ein Wirtschaftszweig unter anderen bleibt und das Verhältnis gewahrt wird - deshalb haben wir neunundzwanzig Zimmer und nicht dreihundert, und wir haben uns gegen die Verlängerung der Landebahn des kleinen Flughafens von Fogo entschieden.«
Wie einst der Fisch ist das Inn ein Gemeinschaftsunternehmen. Als ich das Fogo Island Inn Anfang September besuche, empfängt mich Rex - jeder im Haus stellt sich ohne einen Hauch auswendig gelernter Floskeln mit Namen vor - an der Haustür. Das Zimmer ist skandinavisch gemütlich, eine weite Fensterfront aufs Meer, auf dem Bett ein Quilt, auf Fogo entworfen und genäht, wie seit Jahrhunderten. Ich lasse den Koffer Koffer sein, mache es mir im Schaukelstuhl bequem und gebe mich dem Meer hin, höre den Wellen und den kreischenden Möwen zu.
Küchenchef Jonathan Gushue ist gebürtiger Neufundländer, der nach erfolgreichen Jahren in Japan, Großbritannien und Kanada nun auf Fogo seine Wurzeln neu ergründet. Den Lunch bekomme ich in dem an die Lobby offen angrenzenden, hohen, lichterfüllten Raum, der förmlich über dem Wasser zu schweben scheint. Ich werde von Tracy ebenso herzlich wie unaufdringlich begrüßt, als säße ich bei ihr am Küchentisch. Ja, natürlich sei ein Glas Sekt jetzt genau das Richtige, nickt sie, und die marinierten Jakobsmuscheln dazu, mit Zucchini und Kräutern und einer Creme aus gerösteten Schalotten, und selbstverständlich könne ich den Steinbutt als kleine Portion bekommen. Der Brut von Benjamin Bridge aus Nova Scotia schmeckt wie die auf dem Wasser glitzernde Sonne, die Jakobsmuscheln sind ein reines Vergnügen, beim Steinbutt (confit, glasig, mineralisch, mit süßen Shrimps, brauner Butter und Fenchelsalat) würde ich am liebsten laut juchzen vor Wonne. Als die junge, ein wenig schüchterne Rebecca mit dem Dessertwagen kommt, lasse ich mich nur allzu gerne zu einer Mini-Pavlova mit Zitronencreme und herbem Partridgeberry-Kompott überreden. Alles auf dem Teller ist auf eine pragmatische, nahezu störrische Art gut und auf eine Weise von dem geprägt, was hier wächst und lebt, wie es noch vor wenigen Jahren kaum denkbar schien.
Zita Cobb betont, das Fogo Island Inn richte sich nicht an Foodies: »Es soll gutes, aber einfaches Essen sein hier bei uns. Die Kulinarik der Insel lebt in den Küchen ihrer Bewohner.« Dennoch ist die kulinarische Wiederauferstehung von Neufundland ohne einen Protagonisten wie Jeremy Charles vom Raymonds in St. John’s nicht vorstellbar. Wer dessen vielfach und zu Recht ausgezeichnete, auf einem komplexen Netzwerk lokaler Zulieferer basierenden Küche erlebt, der kann sich wirklich kaum vorstellen, dass Krebse und Krabben, Thunfisch, Lachs und Steinbutt, Austern, Muscheln und Seeigel, aber auch Rentier und Rebhuhn hier vor zwanzig Jahren quasi nicht mehr zu haben waren, Hummer geringschätzig als Köder eingesetzt wurde, Pilze generell als giftig galten und nur wenige die vielen wilden Beeren und Kräuter nutzten. »Wir brauchten erst das Vorbild der Skandinavier«, erklärt er, »von René Redzepi und all den anderen, um wieder umdenken zu können.«
Die getrockneten, frittierten Kabeljauschwimmblasen mit Kabeljaumousse und fermentierten Beeren im Raymonds verkörpern dieses Umdenken ebenso wie die Pfifferlinge zu Agnolotti mit Ricotta.
»Als ich das erste Mal zu Jeremy ins Raymonds essen ging«, schreibt Zita Cobb im Vorwort zu Jeremy Charles’ Buch Wildness, »hatten wir bereits mit dem Inn begonnen und ich war auf optimistische Weise skeptisch. Doch seine Küche erwies sich als richtungsweisend, als Bestätigung für unser eigenes Vorhaben, wir waren nicht die Einzigen, die an das wahre Potenzial dieses Felsens glaubten. Unsere größte Hürde [als Neufundländer] ist oftmals unser Mangel an Selbstvertrauen, und Jeremy hat uns geholfen, besser zu erkennen, was wir haben, was wir wissen, und was uns fehlt.«
Um die Verbindung in die Küche des Inns herzustellen, hat sie mit Jonathan Gushue den Food Circle ins Leben gerufen. Die erste der öffentlichen Veranstaltungen im September 2018 war eine von Mitchell Davis von der James-Beard-Stiftung moderierte Diskussionsrunde, um das Bewusstsein für die zentrale Bedeutung des Thema Essens zu schärfen. »Ab Ende der 1960er fuhr die Fähre jeden Tag statt nur einmal wöchentlich«, erklärt Zita Cobb, »und das hat auch die Essgewohnheiten verändert. Wir verloren die Orientierung.« Für den dritten Food Circle ein Jahr später hat jeder von Gushues Team mit jemandem von der Insel ein traditionelles Gericht in dessen Küche gekocht. An einem Sonntagnachmittag präsentieren die elf jungen Köche zusammen mit elf alteingesessenen Fogo Islandern ein Buffet an Insel-Klassikern. Es gibt gebratene Makrelen und Fischsuppe, gedünstete Brennnesseln mit Grieben, Fishcakes, Baked Beans und Hammelsuppe. Und selbstverständlich Süßes wie Käsekuchen, Jam Tart, Bangbelly-Brotauflauf und Snowballs, denn Neufundländer lieben Süßes. Die Melasse, die die Händler im Tausch gegen den billigsten Klippfisch zusammen mit Rum aus Jamaika zurückbrachten, hat sich ebenso in die kulinarische DNA eingeprägt wie die für den Winter zu Marmelade eingekochten Beeren.
Erinnerungen werden wach, Rezepte und Erfahrungen werden ausgetauscht, viele haben heute wieder einen Gemüsegarten hinterm Haus, versorgen die Küche des Inns und lagern in root cellars, Vorratskellern, Wintervorräte ein. Neue Ideen entstehen: »Snowballs, aus Haferflocken, Kakao, Kondensmilch und Butter, die gab es früher immer zum Geburtstag und zu Weihnachten - warum machen wir das nicht im Inn?« Anderes steht dort bereits auf der Karte; zum Frühstück bringt mir Tracy Toutons, in der Pfanne gebackene weiche Brotfladen, mit Butter - und natürlich Melasse. Aubrey Payne erzählt mir auf unser gemeinsamen Tour über die Insel, dass seine Großeltern noch Beeren, Pilze und Kräuter gesammelt hätten: »Dieser niedrige Wacholder hier, mit solchen Zweigen hat meine Großmutter Brathähnchen und Fasan abgedeckt, das gibt ein wunderbares Aroma. Oder die Austernpflanze, die passt gut zu Muscheln. Und natürlich haben wir Gänse gejagt, aber das war alles so nebenbei.«
Seit zwei Jahren agieren er und seine Frau Maria als Gastgeber im Shed, dem kleinen Extragebäude neben dem Inn, wo rund zwanzig Gäste an dem langen Tisch Platz haben. »Für uns war das alles neu, und ich habe Zita gefragt, was sie von uns erwartet. Sie sagte nur: Tu einfach das, was du auch zu Hause tun würdest. Und da habe ich an meine Großmutter gedacht, wie sie am Küchentisch Geschichten erzählte. Wir waren acht Brüder und sechs Schwestern, und es war immer eine große Runde. Zita sagte, ja, genau. Diese Abende, das ist jetzt beinahe wie früher, wie zu Hause … Ohne das Inn könnte ich die Tradition meiner Großmutter nicht fortführen. Wie sie schenke ich zum Schluss jedem einen Stein und erkläre, dass ein Wunsch in Erfüllung geht, wenn man ihn ins Meer wirft - aber, sage ich dann wie sie, wünscht euch kein Geld, das ist nichts wert.« Auch Zita Cobb betont: »Bis heute gehört mir nichts auf Fogo außer Onkel Arts Haus, ich bin ohne Geld auf dieser Insel geboren worden, und ich werde sie ohne Geld verlassen.«
»Doch Zita hat das Leben zurückgebracht«, sagt Aubrey Payne. Und sie hat immer neue Ideen und Pläne. Eine kleine Konservenfabrik für Dorschleber schwebt ihr vor, für die Foie gras des Meeres, die die Fischer gerne direkt auf den Bootsmotoren braten. Ohne Fisch geht eben nichts auf dem Felsen …
Meine Meinung …