Der Michelin und der Schiefe Turm von Pisa

Warum es gut ist, dass der Michelin seine Kriterien für sich behält

Rechteinhaber: http://www.flickr.com/photos/beggs/, Lizenzvereinbarung: Creative Commons Attribution 2.0 Germany License
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Einmal in meinem Leben hatte ich eine Eins in Kunst. Im Zeugnis. Das kam so: Ich ging in Erlangen aufs Gymnasium, in Franken, Bundesland Bayern. Dort wurde seinerzeit wenig Aufhebens darum gemacht, dass der Kunstlehrer, den ich in der sechsten Klasse hatte, Stadtratskandidat der NPD war. Dieses Detail ist hier auch nicht weiter wichtig, es soll nur deutlich machen, dass ich als eines der ersten Ausländerkinder nicht gerade sein Protegé war. Eines Nachmittags hatten wir die Aufgabe, einen Turm aus Papier zu basteln. Alle Kinder fingen an, Türme zu bauen, aber der Lehrer hatte eigene Vorstellungen: »Man könnte ja den schiefen Turm von Pisa bauen, aber gerade. Wer will das machen?« Keiner meldete sich, da machte er deutlich, dass Wohlverhalten sich lohnen sollte: »Wer des macht, der kriegt an Einser!« Ich vermute, es war auch mein Bedürfnis zu provozieren, als ich fragte: »Ins Zeugnis?« »Gut,« sagte er, »ins Zeugnis.« So klebte ich also mehr schlecht als recht einen Pisaturm zusammen, der noch im Lot stand, der Lehrer hielt Wort und ich erhielt meine einzige Eins in Kunst.

Die kleine Anekdote ist lehrreich im Bezug auf das Verhältnis zwischen Kritik und Kunst. Denn der Kritiker, der nicht nur sehr genau weiß, was er will, sondern das auch freimütig und allgegenwärtig publiziert und darüber hinaus über genügend Einfluß verfügt, um diejenigen, die seinem Ruf folgen, zu belohnen, – dieser Kritiker bekommt halt in vielen Fällen genau das, was er vorher skizziert hat. Nicht mehr und nicht weniger. Das Problem ist: das hat mit Kunst recht wenig zu tun.

Dem Guide Michelin wird genau das Gegenteil vorgeworfen: Man wisse gar nicht, nach welchen Kriterien geurteilt wird, die Tester kommen anonym, ständig werden neue Vermutungen angestellt, warum es diesmal wieder nicht geklappt hat: die Tischdecken, der Dessertwagen, die Käseauswahl, der Service oder es liegt sowieso an der Mißgunst der Franzosen.

Auch ich bin der Meinung, dass Michael Hoffmann und Jörg Sackmann bessere Bewertungen verdient haben. Aber ich bin froh, dass der Michelin seine Kriterien nicht offenlegt. Denn genau das ist in Wirklichkeit die Voraussetzung dafür, dass die Küche vielfältig und interessant bleibt. Sonst würden alle nur noch lotrechte Türme von Pisa bauen. Mit Texturen.

Meine Meinung …

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