Das Leben ist kein Gänsehof

Schneeweiß, warm angezogen und munter schnatternd über die Wiesen spazieren …So ein Gänseleben ist das Schlechteste nicht. Vorausgesetzt man verbringt es auf dem richtigen Hof

Gänsehof, Rechteinhaber: Andrea Thode, Lizenzvereinbarung: Nutzung nur auf Effilee
Essen fassen – ausgesuchtes Futter ergibt ausgesuchtes Fleisch

Es ist Dienstagabend und ich rufe den Gänsehalter Alois Kuntschke an. Ich möchte einen Termin und ich möchte ihn schnell. Mittwoch. Die Zeit drängt wie ein Porschefahrer auf der Überholspur. Bald ist Weihnachten – zumindest wenn man nach der Gebäckauswahl im Supermarkt geht – und wir wissen noch gar nicht, wo die Gänse eigentlich herkommen. Alois Kuntschke ist sofort bereit, meldet aber Bedenken an: »Ob morgen der richtige Tag ist? Ich hab grad Wetterbericht gesehen. Morgen soll hier Weltuntergang sein. Nehmen Sie lieber Gummistiefel mit.« Also wird solides Schuhwerk eingepackt. Der Weltuntergang schreckt mich nicht. Nasse, kalte Füße schon.
Am nächsten Morgen machen wir uns bei leichtem Nieselregen in Hamburg auf den Weg, verfahren uns einmal quer durch Mittelholstein und kommen bei heiter bis wolkigem Wetter auf dem Hof an. »Der Wetterbericht ist auch nicht mehr, was er mal war«, sagt Alois Kuntschke mit einem Blick in den hellgrauen Himmel. »Seit der nicht mehr vom Deutschen Wetterdienst kommt, sondern jeder offenbar seinen eigenen Bericht macht, stimmt da gar nichts mehr.« Alois Kuntschke ist groß, zupackend, hat eine kräftige Stimme, die das Gänseschnattern mühelos übertönt. An den Schläfen werden die Haare langsam grau. Er zeigt die Landstraße entlang: »Wir gehen dann am besten mal zu Fuß rüber zu den Gänsen.« Neben der Straße führt ein Trampelpfad vom Haus der Kuntschkes direkt an den Auslaufzonen des Geflügels vorbei, der Chef geht in Bomberjacke und Jeans voran. »Hier um den Hof rum haben wir einen elektrischen Zaun wegen der Füchse. Die hauen sonst auch gerne mal über 20 Gänse in einer Nacht weg. Die denken halt, der ganze Schwarm sei ein Tier, und dann beißen sie so lange zu, bis sich nichts mehr bewegt. Und wenn die dir in der Nacht 50 Gänse reißen, kannst du am nächsten Morgen deinen Jahresurlaub vom Hof karren.« Wir schlagen uns weiter durchs Buschwerk. »Die Krähen sind auch gefährlich.« Ich bin erstaunt. Krähen greifen Gänse an? »Ja. Gänse, Hasen. Vor allem die Jungtiere. Was die Grünen erzählen ist alles Quatsch. Also ich bin ja nun weiß Gott kein Schwarzer oder Jäger oder typischer Bauer. Aber Krähen und Raben sind verdammt schlaue Biester. Die jagen im Team, da haben die Gänse keine Chance.« Wir sind jetzt, an den Barbarie-Enten vorbei, bei den Gänsen angelangt. »Klettern Sie am besten mal hier über den Zaun rüber. Da ist zwar Strom drauf, aber nicht so doll.«

Wir stehen zwischen den Gänsen, die uns aus sicherer Entfernung beobachten. »Also, um das klar zu sagen: Ich bin kein zertifizierter Bio-Mäster. Ich arbeite mit Bio-Höfen zusammen und werde von denen auch beliefert. Meine Schlachterei hier hat aber ein Bio-Zertifikat. Nicht, dass Sie da Quatsch schreiben und die Beamten dann denken, ›Was erzählt der Kuntschke da für ’nen Scheiß‹. Das ist ja alles streng geregelt.« Die Gänse bewegen sich im Pulk langsam über die Wiese. »Unsere Biobauern füttern hofeigenes Getreide und Zusatzfutter von zertifizierten Zulieferern. Im Prinzip werden die Tiere wie Bodybuilder ernährt, mit viel Eiweiß. Was die Tiere essen, wirkt sich natürlich auch auf das Fleisch aus, auf den Geschmack. Es gibt Halter, die füttern ihre Gänse mit Apfeltrester. Wir versuchen, so zu füttern, dass das Fleisch mager, aber zart ist. Die Leute wollen ja immer mageres Fleisch.« Früher war Alois Kuntschke als Ingenieur bei der Lufthansa mit Triebwerkswartung beschäftigt, bis er 1980 den Hof gekauft hat. »Wir hatten in der Familie schon immer Gänse gehabt, aber nicht im großen Stil. Irgendwann kamen dann immer mehr Nachfragen und dann habe ich mich darauf konzentriert. Zurzeit habe ich etwa 3800 Gänse hier.« Alois Kuntschke kratzt sich am Kopf. »Für jemanden, der zu Hause zwei Katzen hat, sind das natürlich eine Masse Tiere. Für ein Geschäft sind es nicht so viele. Wir halten hier Holsteiner Freilandgänse. Die sind relativ wenig gezüchtet, recht klein und nah an der Natur.«
Wir stehen mitten auf dem Hof, in unserem Rücken die Landstraße, rechts Gänse, links Gänse, noch weiter links Enten und dann das Haus. Am Horizont Wald, und der Himmel über Mittelholstein wird immer dunkler grau. Um die Gatter herum sieht es aus, als hätte Frau Holle einen besonders enthusiastischen Tag gehabt. »Die Gänse mausern alle sechs Wochen. Jetzt nach der Herbstmauser kann man noch so zwei Wochen rechnen, bis es ans Schlachten geht. Die Daunen unserer Gänse werden zu Betten und Polstern verarbeitet.« Alois Kuntschke hebt eine von den kleinen, weichen Brustfedern auf und zeigt wie filigran sie verästelt ist, um isolierende Luftpolster zu bilden. »Etwas Besseres gibt es nicht, da kommt Chemie nur schwer mit.« Die Tiere leben immer in Gruppen von Gleichaltrigen zusammen. »Die Gänsedamen fangen im Februar schon an, die ersten Eier zu legen, und dann legen sie bis zu 50 Stück. Das heißt, die ersten Küken schlüpfen im März, die letzten dann im Juni. 24 bis 28 Wochen dauert es dann, bis sie schlachtreif sind. Früher hat man Gänse erst mit 36 Wochen geschlachtet. Aber je älter sie werden, desto fester und weniger zart ist das Fleisch.«
Wir versuchen, uns näher an die Gänse heranzupirschen. »Ich habe extra das Wasser und das Futter nach vorne gestellt, damit sie etwas rankommen für die Fotos. Gehen Sie mal ein büschn hier rüber, hier ist nicht so viel Gänsescheiße.« Wir stehen jetzt auf Höhe der metallenen Futterbehälter, die auf der Wiese stehen wie zwei rostige Öltanks, und geben dem Federvieh Zeit, sich an unsere Anwesenheit zu gewöhnen. »Ich habe mich mit dem Verkauf auf Hamburg spezialisiert.« Alois Kuntschke gestikuliert grob in eine Richtung in der ungefähr Hamburg liegen könnte. »Was soll ich nach Frankfurt oder Berlin liefern, wenn ich die reichste Stadt Deutschlands direkt vor der Tür habe?« Der Gänseschwarm schiebt sich vorsichtig näher. Die Tiere bleiben immer zusammen auf einem Haufen, und langsam verstehe ich, dass ein Fuchs so einen Schwarm für einen einzigen großen Organismus halten muss. Ich frage Alois Kuntschke, ob es da nicht oft zu großen Verlusten kommt, wenn die Gänse immer auf einem Haufen stehen. »Das geht, da passiert nicht so viel. Doof ist, wenn man eine Order über 2000 Gänse hat und der Kunde abspringt. Das ist mir auch schon passiert. Da musste ich dann hier über die Dörfer fahren und versuchen, die loszuwerden.«

»Gans kann man ja auf sehr unterschiedliche Weise zubereiten. Gerade zu Weihnachten natürlich vor allem sehr traditionell. Grundsätzlich darf man Gans nicht zu lange kochen, dann wird sie fest und trocken. Bei Gastronomen hat sich inzwischen rumgesprochen, wie das im Prinzip geht.« Alois Kuntschke schaut zu seinen Gänsen herüber, die sich langsam zu ihrem Futter trauen. »Klar, sonst würde ja auch niemand in die Restaurants kommen. Aber die Köche haben auch alle eigene Methoden. Das ist halt Geschmacksfrage. Es gibt in Hamburg ja sehr verschiedene, sehr gute Restaurants. Zum Teil auch ganz unscheinbar, dass sich da kein Tourist hin verlaufen würde, weil es von außen aussieht wie eine Seeräuberkneipe.« Ich wundere mich, dass die Gänse nicht über die niedrigen Gatter ausbüxen. »Nee. Die können ja nicht fliegen.« Der gelernte Flugzeugingenieur schaut mit gefurchter Stirn zu seinen Gänsen. »Hm, vielleicht könnten sie. Wenn man sie anders füttert. Wenn kräftiger Westwind weht, dann stellen sie sich in den Wind und flattern ein paar Meter. Dann landen manchmal auch welche auf dem Feld auf der anderen Straßenseite. Aber die Gänse kommen immer von alleine zurück zu ihren Kumpels, alleine fühlen die sich nicht wohl.«
»Da drüben beim Haus ist unsere neue Schlachterei. Der Vorteil bei uns ist der extrem kurze Weg. Vor dem Schlachten kommt die Gans eine Nacht in die Ruhebox und dann ist innerhalb einer halben Stunde alles vorbei. Wir müssen die Tiere nicht tagelang im Lastwagen herumkarren. Tiere artgerecht zu halten, wie es so heißt, kostet natürlich mehr Geld als industriell.« Alois Kuntschke lehnt sich an den Zaun. »Bei Lebensmitteln da sind die Leute geizig wie ’ne Wand. Für ein neues Handy nehmen sie Kleinkredite auf und den Fernseher bezahlen sie auf Raten, aber das Essen soll immer schön billig sein. Und wenn sie dann auf ihrem neuen Fernseher eine Reportage über Massentierhaltung sehen, sind sie schockiert.« Am Himmel hängen inzwischen schwer bedrückend schwarze Wolken, aus denen erste Tropfen auf uns fallen.. »Wollen Sie noch einen Kaffee trinken?« Wenn es keine Umstände macht, gern. »Umstände macht es natürlich, aber das ist okay, sonst hätte ich ja nicht gefragt.« Wir gehen den Trampelpfad zwischen Geflügel und Straße zurück und erreichen das Haus Sekunden vor dem Wolkenbruch.
Am Küchentisch sitzen Frau und Töchter und ein Enkelkind beim Kaffeetrinken. Stühle werden gerückt und wir werden mit Kaffee und selbstgebackenem, noch warmem Apfelkuchen versorgt, während draußen jetzt doch noch der Weltuntergang anbricht. Aber wir sind ja drinnen.

Bezugsquelle

Einen Hofverkauf betreibt Alois Kuntschke nicht. Interessenten in und um Hamburg haben jedoch die Möglichkeit, die Bokelholmer Bio-Gänse über das Restaurant Landhaus Scherrer zu beziehen. Eine Gans kostet:

  • roh und ungebunden 95 Euro
  • roh und gebunden 105 Euro
  • gebraten 130 Euro
  • gebraten mit Beilagen (4 Pers.) 158 Euro

www.landhausscherrer.de/enten-gaense-bestellung/effilee

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Aus Effilee #23, Winter 2012
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