Erhalten durch Aufessen

Die Existenz alter Nutztierrassen ist bedroht. Deshalb sollten wir möglichst viele dieser Viecher essen. Das klingt blöd? Es ist aber durchaus sinnvoll, für Tiere wie Menschen

Die arme Sau. Nun ist sie tot und liegt da in Stücken, zerteilt in Braten, Schnitzel, Bein und Speck, gepresst zu Blutwurst und Salami, geräuchert zu Schinken, der schwer am Haken baumelt. Morgens um 9 Uhr weht ein schneidender Wind über den Markt auf dem Domplatz in Münster, hinein in den sechs Schritte breiten Verkaufswagen von Maria Büning, die in dicken Stiefeln hinterm Tresen steht. Auf ihrer blauen Schürze preschen stilisierte Schweine über ihre Brust, darunter steht Bunte Bentheimer.

Foto: Andrea Thode; Lizenzvereinbarung: Nutzung nur auf Effilee
Maiale al Latte, Spanferkelkeule in Milch gegart

Maria Bünings eiskalte Finger tanzen über das tote Schwein, schneiden, wiegen, verpacken. »Ich hab einfach gerne Umgang mit Schweinen«, sagt die schlanke 50-Jährige mit den schulterlangen grauen Haaren. »Und dass ich Fleisch von bedrohten Tierrassen verkaufe, ist eine gute Sache.«

Das sehen ihre Kunden genauso. Drei Tage in der Woche steht Büning auf dem Markt in Münster, vier Schweine hat sie da schnell verkauft, manchmal auch mehr. Kein Wunder, wenn selbst der weiße Speck so schmackhaft ist, dass man ihn kalt auf Brot essen mag, nur mit ein bisschen Salz gewürzt. Das Bunte Bentheimer Schwein ist schon eine leckere Sache. Schade, dass es von den Viechern in ganz Deutschland nur noch 400 eingetragene Zuchttiere gibt, sodass der Bestand als extrem gefährdet gilt. Angesichts dessen könnte man die Gourmands auf dem Marktplatz von Münster auf den ersten Blick für eine Bande von Ignoranten halten – bedrohte Tiere gehören schließlich in den Zoo oder in ein Schutzgebiet mit einem schönen Zaun drumherum. Ein Klischee, das auch Maria Büning kennt.

In den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren die haarigen, schwarz gepunkteten Tiere mit den gewaltigen Schlappohren noch die Lieblinge der Hausfrauen, die ihre Schweine mit Küchenabfällen fütterten. Bergarbeiter im Ruhrgebiet, pensionierte Angestellte und an den Stadtrand abgewanderte Bauern schlachteten sie im Hinterhof und machten Braten und Wurst aus ihnen. Selbst der Handel zog die gescheckten Tiere den weißen Ferkeln des heute üblichen Landschweins vor – bis sich die Menschen in den Wirtschaftswunderjahren rund gegessen hatten und fortan magere Schweine wollten. 1964 verschwanden die Bunten Bentheimer aus den Herdbüchern der Züchter. Dass es sie heute noch gibt, verdanken wir einem einzelnen Landwirt, der seine Tiere über die Jahrzehnte rettete.

Es ist eine Geschichte, die für das Schicksal vieler Nutztierrassen steht und die sich bis heute fortschreibt: Weltweit stirbt alle zehn Tage eine Rasse aus. In Deutschland ist das seit 1975 geschehen, als das echte Deutsche Weideschwein verschwand, doch immer noch stehen 94 Nutztiere auf der Roten Liste der Gesellschaft zur Erhaltung alter und gefährdeter Haustierrassen (GEH). »Und damit droht immer der Verlust von Kultur und von Geschmack«, sagt GEH-Geschäftsführerin Antje Feldmann. »Vielfalt kann man einfach nicht zurückzüchten.«

Wenn Antje Feldmann über bedrohte Rassen spricht, fächert sich das Land auf, in dem wir leben: Küsten, Moore, Gebirge – jede Gegend hat ihr eigenes Tier. Am Meer vertragen Schafe salzige Gräser, in den Bergen haben sie feste Klauen für den sicheren Tritt, in Moorgebieten sind sie sehr leicht, damit sie nicht absaufen. Es sind schöne Tiere, die dem Menschen Milch, Fleisch oder Wolle geben und die so robust sind, so einfach zu halten, dass auch Züchter ohne Landwirtschaftsstudium mit ihnen zurechtkommen.

Das große Sterben begann in den 50er-Jahren, als sich die Landwirtschaft in eine Industrie verwandelte und die große Stärke einiger Rassen zu ihrer Schwäche wurde. »Alte Rassen waren immer Mehrnutzungstiere«, sagt Antje Feldmann. »Ein Rind etwa lieferte Fleisch, gab Milch, und zog auch den Pflug über den Acker. Plötzlich aber hatte jeder Bauer einen Traktor, da brauchte er ein solches Tier nicht mehr. Und ein paar Jahre später entschieden sich die Bauern entweder für die Milch- oder die Fleischproduktion. So entstanden die Hochleistungsrassen von heute.«

Auch die Anpassung der Tiere an ihre Umwelt und das Futter, das sie bereithielt, wurde zunehmend unwichtiger, konnte doch bald jeder Landwirt Soja aus Brasilien kaufen und Hochleistungstiere selbst in den kärgsten Regionen damit versorgen. Ende des 19. Jahrhunderts gab es allein in Bayern 35 Rinderrassen – heute sind es fünf.

Für Antje Feldmann ist das nicht nur ein Verlust von Vielfalt, Geschichte und Schönheit – es geht ihr auch ums Essen, um verlorene Geschmäcker. »Die alten Rassen wachsen langsamer und brauchen mehr Futter. Sie fressen Gras und Kräuter, und natürlich sind sie oft fetter als die neuen Magerrassen. Doch im Fett manifestiert sich das gute Futter, und das ist je nach Rasse und Region sehr unterschiedlich.« Maria Bünings Kunden sind in dieser Situation eigentlich Tierschützer. »Züchten allein reicht nicht«, sagt Antje Feldmann. »Nutztiere überleben nur, wenn sie den Menschen nützen. Und nutzen heißt oft aufessen.«

Etwa 1000 Züchter, die bedrohte Tiere halten, sind in der GEH organisiert. Sie sind Profis oder Krauter, sie folgen einem Ideal oder ihrem Gaumen. Für die einen ist es Geschäft, für die anderen Liebe. Doch eine Erfahrung eint sie: Erhalten durch Aufessen schafft man nicht alleine! Das Problem ist die Vermarktung.

Schweine – Vom Geschmack zum Geschäft

Der Weg vom Marktplatz in Münster zu Maria Bünings Hof in Laer führt über flaches Land voll winterkarger Äcker, an deren Rändern sich struppige Bäume und Sträucher in den bleigrauen Himmel recken. Fisseliger Regen treibt über das Land, Maria Büning reibt sich die kalten Finger warm. Seit 15 Jahren fährt sie diese Strecke mit ihrem Verkaufswagen, morgens zwischen fünf und sechs Uhr, zurück gegen 15 Uhr. Mit zurzeit 428 Schweinen ist Maria Büning die größte Bentheimer-Züchterin Deutschlands. Nicht schlecht für eine ehemalige Zahnarzthelferin.

»Geschmack hatte ich immer«, sagt Büning, »aber dass ich damit mal eine Rasse erhalte und ein richtiges Geschäft aufziehe, hätte ich mir nie träumen lassen.« In der Küche ihres Bauernhauses stellt sie Leberwurst, Schinken, Braten auf den dunklen Holztisch und brüht schwarzen Tee. Auf der Anrichte stehen Gläser mit Schmalz, das sie gestern ausgelassen hat. »Im Grunde«, sagt sie, »ist das alles über den Geschmack gekommen. Wir haben getestet und probiert und sind am Ende bei den Bunten Bentheimern gelandet.«

Maria Büning pfeift die beiden Bordercollies Frieda und Lilly heran, die beim Umtreiben der Schweine helfen. Dann gehen wir raus, an Schweinepostern vorbei durch den Rinderstall, in dem ein paar Rote Höhenviecher stehen, auch sie sind vom Aussterben bedroht. Über den zementbedeckten Wirtschaftshof geht es an Misthaufen vorbei zu den vier Schweineställen, die nicht mehr sind als große Schleppdächer über Haufen von Stroh, durch die sich die Schweine wühlen. Ein Jahr lang leben die Bentheimer in diesen Ställen, das ist doppelt so lang wie das Leben eines konventionellen Mastschweins. Mindestens ein halbes Jahr grasen sie auf der fünf Hektar großen Weide. »Auch im Winter, wenn es arschkalt ist«, sagt Maria Büning. »Sie toben durch den Schnee wie Kinder beim Schlittenfahren.«

Büning füttert Weizen, Gerste, Bohnen, Erbsen, Rüben, Luzerne, Kleegrassilage. »Die kriegen alles, die fressen alles.« Trotzdem brauchen sie lange, um ihr Schlachtgewicht von 110 Kilogramm zu erreichen, weil sie so viel rumlaufen. Maria Büning klettert über das Gatter. Die Schweine toben, bevor sie sich an die Nasen fassen lassen. »Es sind eigentlich ruhige Tiere«, sagt Büning, »doch einen Herzinfarkt sollte man im Stall nicht bekommen. Wenn man still daliegt, knabbern sie einen irgendwann an. Aber ich liebe sie.«

Maria Bünings Liebe zu den Bunten Bentheimern ist eng verbunden mit der Liebe zu Martin, dem Mann, mit dem sie zusammenlebt. Maria Büning ist 20 Jahre jung, als sie 1980 von zu Hause ausziehen und mit Martin zusammenleben will. Ihre Eltern haben eine Wirtschaft auf dem Dorf, einen Garten und eine Wiese, auf der sie zwei Schweine halten. Sie machen Wurst, Maria rührt das Blut, noch heute hat sie den Geruch in der Nase. Doch Maria und Martin wollen ein eigenes Leben, und so mietet Martin einen Kotten mit drei kleinen Zimmern, mitten auf dem Acker. Die Haustür ist schief und durch die alten Fenster pfeift der Wind, doch hinterm Haus ist eine kleine Wiese, und so beginnt mit der Liebe zwischen zwei Menschen auch ein Leben mit Schweinen.

Es ist die Zeit der ersten Lebensmittelskandale, als Maria und Martin beschließen, dass sie nicht mehr Fleisch aus dem Supermarkt essen wollen. Sie kaufen zwei Ferkel, ganz normale weiße Schweine, und ziehen sie auf ihrer Weide groß. »So haben wir angefangen«, sagt Maria Büning, »ganz für uns selbst.«

Die Zahnarzthelferin kauft sich ein Buch über Selbstversorgung, schlachtet und wurstet mit einem Metzger und verschenkt an Freunde, was das Paar nicht selbst isst. Nach drei Jahren ziehen sie in ein anderes Haus mit einer größeren Wiese. »Da wollte ich eine richtige Sau mit Ferkeln«, erinnert sich Büning, »und dafür brauchte ich einen Eber.«

Nach sechs Jahren hat sie zehn Muttersauen und 100 Schweine, die sie ne- ben ihrem Job aufzieht und verwertet. Husumer Weideschweine sind dabei und ein paar Schwäbisch-Hällische Landschweine. Sie päppelt Ferkel auf, mästet für andere Züchter oder Händler und merkt: »Schweine sind lieb und intelligent, ich mag sie.« Nur mit ihren eigenen Schweinen kommt sie auf keinen grünen Zweig. Die Händler mäkeln daran herum oder hauen sie übers Ohr. »Zugleich wurde mir klar, dass ich mich entscheiden musste«, sagt Maria Büning. »Zahnarzt oder Schweine – beides war nicht zu schaffen. Und Schweine sind nun mal interessanter als immer nur den Leuten in den Mund zu gucken.«

1990 kauft das Paar den heutigen Hof und pachtet etwas Land. Büning kündigt ihren Job und entscheidet sich für ihre Zucht schließlich für die Bunten Bentheimer Schweine – weil sie so gut schmecken. Zuvor hat sie Fleisch verschiedener Rassen quasi in Testreihen in ihrer Küche verarbeitet – »die Bentheimer waren einfach schmackig.« Außerdem litten ihre weißen Säue ständig an Gesäugeentzündungen. »Die waren so hochgezüchtet, dass die förmlich auf die Spritze nach dem Ferkelwurf warteten.«

Mit den Bentheimer Schweinen entscheidet sich Maria Büning für einen schweren Weg, denn die sind deutlich fetter als andere Schweine. Das schreckt Kunden und Metzger ab, zudem werden Schweine im Handel nach ihrem Magerfleischanteil bezahlt, was die Marge bei Bentheimern reduziert. Und das sind nicht die einzigen Probleme bei der Vermarktung bedrohter Rassen: Sie sind oft nicht nur zu fett, sondern auch zu klein, zu schief, zu irgendwas. Außerdem verlangt der Handel einen einheitlichen Geschmack, den die Züchter nicht garantieren können, weil sie wechselndes Futter geben.

Die Fleischmengen sind für große Vermarkter meist zu klein, denn die Züchter halten häufig nur wenige Tiere. Und anders als in den Zuchtfabriken folgen bedrohte Rassen eigenen Fortpflanzungsrhythmen, sodass kaum ein Züchter ganzjährig konstante Mengen liefern kann – Lammfleisch im Sommer ist einfach nicht drin. Die Tiere passen nicht in die EU-Normen, nach denen sich Metzger und Handel richten. Und was vielleicht die größte Hürde ist: Wer bedrohte Rassen züchtet, kann nicht nur Edelteile wie Steak oder Filet verkaufen und den Rest billig nach Übersee verhökern – er muss das ganze Tier vermarkten, weil es sich sonst nicht rechnet.

Es gibt in Deutschland kein einziges Beispiel für eine großformatige Vermarktung reinrassiger bedrohter Nutztiere. Am weitesten haben es die Züchter der Bäuerlichen Erzeugergemeinschaft Schwäbisch Hall (BESH) gebracht, die dem Schwäbisch-Hällischen Landschwein eine beeindruckende Prominenz verschafften: Nach mehr als 20 Jahren mästen sie bis zu 60 000 Schlachttiere pro Jahr. Was als Schwäbisch-Hällisches Qualitätsschweinefleisch g. g. A. bundesweit bei Metzgern, Gourmetversendern, Feinkostgeschäften und auf Märkten landet, ist allerdings oft eine Kreuzung aus Schwäbisch-Hällischem Schwein und dem mageren Pietrain, der wichtigsten Vaterrasse in der konventionellen Schweinezucht. Laut Erzeugerrichtlinie der BESH ist »eine Anpaarung von Schwäbisch-Hällischen Muttersauen mit Fleischebern zulässig, wenn dies die Kundenwünsche nach besonders magerem Fleisch erforderlich machen«.

Für BESH-Chef Rudolf Bühler ist das ein guter Weg. »In der Mast gibt es reinrassige Schwäbisch-Hällische Landschweine, welche bevorzugt aus der gehobenen Gastronomie nachgefragt werden. Die Metzger bevorzugen jedoch Kreuzungsschweine mit weniger Fett. So kann die Rasse am besten erhalten werden.« In der Tat hält die BESH durch die Zweiteilung rund 3500 reinrassige Schwäbisch-Hällische Muttersauen in der Mast am Leben. Doch die Metzger sind mit Abstand die wichtigsten Kunden der BESH, nur zehn Prozent des erzeugten Fleisches gelangen in die Küchen von Gourmetrestaurants.

Selbst wenn es Züchter des Angler-Sattelschweins und des Iberico-Schweins ähnlich halten – in der Szene ist das ein umstrittener Ansatz. Auch für Maria Büning kam dieser Weg nie in Betracht. »Wenn man etwas macht, muss man es richtig machen. Ich lasse mir nichts von anderen Leuten diktieren, auch nicht von Kunden.« Dass Maria Büning mit ihren fetten Bentheimern einen so großen Erfolg hat, liegt wohl auch an dieser Kompromisslosigkeit. »Wenn wir überleben wollen, müssen wir die Kontrolle behalten«, sagt sie. »Also bleibt nur die Direktvermarktung.«

Es scheint fast unglaublich, doch Maria Büning schafft es, jedes Jahr rund 400 Schweine an die Kunden zu bringen. Als sie sich 1995 das erste Mal mit einem Verkaufswagen auf dem Markt in Münster stellte, dachte kaum jemand an den Wert bedrohter Rassen, und Regionalität war eine Sache für Freaks. Die ersten fünf Jahre waren dann auch hart. »Ich habe mir Fransen an den Mund geredet, mein Hals war immer trocken«, erinnert sich Büning. Sie musste erklären, was sie eigentlich macht, und warum das Fleisch 50 Prozent teurer ist als das Zeug im Supermarktregal. Sie verteilte handkopierte Zettel und putzte Klinken bei Metzgereien und Hofläden, während sich bei ihr »die Schweine stapelten«.

Der Durchbruch kam im Jahr 2000, als die BSE-Krise das Land erschütterte. Plötzlich wollten die Leute wissen, was sie eigentlich essen. »Da ging es richtig los«, sagt Büning. Irgendwann klopfte ein Schinkenhersteller an, für den sie heute alle sechs Wochen 25 Schweine schlachtet. Bioläden und ein paar Restaurants klinkten sich ein. Und sie gewann Kunden, die ihr halfen, das größte Problem bei der Vermarktung zu lösen: die Innereien, Füße und Schnauzen unters Volk zu bringen. »Ich habe dafür eine Reihe spezieller Kunden«, sagt Maria Büning, und man merkt, dass sie darüber sehr glücklich ist.

Es sind Menschen wie Till-Moritz Scheffler, der in Münster regelmäßig »Ohren, Nasen und so was« abnimmt. Scheffler, 22 Jahre alt, sagt: »Das Beste vom Bentheimer bliebe sonst übrig.« Er kocht daraus Suppen, macht Sülze, schnippelt Fußfleisch in den Salat – das hat er alles von seinem Vater gelernt. Vom Bentheimer könne man alles benutzen, sagt er. Dann erzählt er von dem ganzen Schweinebein, das er gefüllt hat, mit Fleisch, Pistazien und Mortadella: »Da braucht’s nicht viel Gewürz. Und mit solch einem Bein können sich zehn Leute einen schönen Abend machen.«

Scheffler lädt seine Freunde einmal im Monat zum Essen ein. »Die sind oft misstrauisch, aber am Ende sind alle glücklich.« Er träumt von einer Galantine vom ganzen Spanferkel, schön glasiert. »Das wäre ein Riesending. Aber entbeinen Sie mal ein Schwein. Ich übe noch. Ein ganzes Schwein… Die Leute wissen gar nicht, was sie verpassen.«

Für Till-Moritz Scheffler bedeuten die Bunten Bentheimer Glück, für Maria Büning sind sie auch noch ein gutes Geschäft. Dass sie eine bedrohte Rasse erhalte, sagt Büning, sei ihr erst vor einigen Jahren bewusst geworden. »Ich liebe einfach meine Schweine. Und ich liebe mein Geschäft.«

Schafe – Vom Erhalt zum Lebenssinn

Thomas Schumacher ist ein hochgewachsener Mann, 41 Jahre alt, mit Brille und leicht ergrauten Haaren. Er arbeitet in der Personalabteilung einer auf Computerprobleme spezialisierten Unternehmensberatung – und züchtet nebenbei Bentheimer Landschafe. »Ich bin mit dem Ziel des Rasseerhalts gestartet«, sagt Thomas Schumacher, »erreicht habe ich aber vor allem persönliche Zufriedenheit.«

Schumacher lebt in Kleinfischbach, einer Reihe nicht zu hübscher Häuser auf einem Wiesenhang. Hier ist er aufgewachsen, hier hat der Opa Milchkühe gehalten und sein Vater Hühner. Thomas Schumacher wollte nicht in die Mühlen der Landwirtschaft und lernte Industriefachwirt. Da hörte er immer wieder, was er nicht glaubte. »Die haben uns was von grenzenlosem Wachstum erzählt, aber aus der Landwirtschaft weiß ich, dass das Unfug ist.«

Bereits als Kind hielt er Ziegen, Gänse, Ponys, mit 17 Jahren wurde er Mitglied der GEH. Seine Beweggründe kann er nur schwer erklären. »Weiterarbeiten mit dem, was da ist – dieser Gedanke hat mich irgendwie angekickt. Man hat damals schon gemerkt, dass Hochleistungstiere gesundheitliche Probleme haben.« Schumacher überlegt, man merkt, dass ihm das zu abstrakt ist. »Wissen Sie, meine Familie ist hier ansässig. Ich bin mit dem Land verbunden, wo die Familie ackerte, in dem Herzblut steckt. Und bei alten Tierrassen ist es ähnlich. Mir bedeutet das etwas.«

Thomas Schumacher reißt die wacklige Holztür zum Stall auf, einem leicht schiefen Backsteinbau, der innen mit Spinnweben verhangen ist. Hier stehen 70 Bentheimer Landschafe, die einen langen Hals machen, um Heu aus Ballen zu zupfen. Von Frühling bis Herbst wackeln sie über Schumachers Weiden, den Winter über stehen sie im Warmen. Sie haben moderhinkefeste Klauen und ihr Fell ist dick und hell, um Augen und Ohren haben sie dunkle Flecken. In ganz Deutschland leben nur noch gut 2000 Bentheimer Landschafe, denn mit rund 18 Kilogramm Schlachtgewicht fehlen ihnen ein paar Kilo, um mit konventionellen Lämmern mitzuhalten, die zudem weit weniger Futter brauchen.

Schumacher geht es erst mal nicht um die Vermarktung. Ihm ist der Erhalt der Tiere wichtig, an denen er »irgendwie hängen geblieben« ist, obwohl sie dümmer sind als Ziegen. »Die Vermarktung ist für mich nur Mittel zum Zweck.« Dass sie ihm seit 20 Jahren gelingt, liegt an Zufällen, die er geschickt zu nutzen verstand. »Denn Rettenwollen alleine reicht nicht.«

Freizeitzüchter wie er stehen vor einem großen Problem: Sie können sich nicht groß um die Vermarktung des Fleischs kümmern, und so bleiben viele darauf sitzen.

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Schumacher vermarktet fast ausschließlich direkt vom Hof: Was mit seinen Nachbarn begann, sprach sich schnell herum, und so stehen heute um die 60 Menschen in seiner Kartei, die er regelmäßig zur Schlachtzeit anruft und die ihm seit Jahren die Treue halten. Er verkauft nur halbe oder ganze Lämmer, Teilstücke gibt Schumacher nicht ab. »Soll ich den Rest wegschmeißen? Außerdem sollen sich die Leute mit dem ganzen Tier beschäftigen. Auch das ist Wertschätzung.«

Warum klappt das bei ihm so gut? Thomas Schumacher kann es nicht genau sagen. Vielleicht ist wirklich etwas dran an dem Spruch, dass sich Gleichgesinnte immer finden. Wie soll man sonst erklären, dass Schumacher in einer Unternehmensberatung arbeitet, die eine eigene Landwirtschaft betreibt, einen Hofladen und eine subventionierte Bio-Kantine, wo Schumacher jedes Jahr bis zu zehn Schafe an die Kundschaft bringen kann? »Ja, das ist merkwürdig«, sagt Schumacher, »ich habe schon komische Chefs.« Vor 15 Jahren kauften sie einen ganzen Bauernhof mit Milchkühen, obwohl sie eigentlich nur eine Fläche für Parkplätze brauchten. Sie schafften die Milchkühe ab, stellten Schottische Hochlandrinder auf die Weide und Schumacher baute ein internes Vermarktungssystem auf. So entstand der Bioladen, wo die Computerspezis sich bis heute Fleischpakete packen lassen. Seine Lämmer liefert Schumacher an den Koch der Kantine, der daraus Irish Stew, Frikadellen oder Lammgyros macht.

Schumachers wichtigster Mitstreiter ist allerdings nicht ein Koch – sondern ein Neurologe: Dieter Steves zerlegt für den Kleinzüchter die Tiere. »Ich bin sehr glücklich mit meinem Dieter«, sagt Schumacher. »Ohne ihn würde ich das alles nicht schaffen.« Die beiden haben sich 1991 in der Praxis von Dieter Steves kennengelernt, einem 62-jährigen Neurologen und Psychiater mit beeindruckend dickem Bart und Bauch aus dem Städtchen Wiehl. Schumacher kam wegen seiner Kopfschmerzen zu ihm, aber sie sprachen auch über Schafe. Steves spricht mit seinen Patienten oft über Schafe. »Der Mensch braucht reale Dinge«, sagt Steves, »und Schafe sind sehr real.«

Schumacher erzählte ihm von seinen Plänen mit den Bentheimer Landschafen und Steves hielt das für eine »tolle Idee«. Gemeinsam kauften sie im Emsland einen Bock und sechs Schafe. »Seitdem fahre ich damit mein Überlebensprogramm«, sagt Steves. »Miss- brauchte Kinder, Trennungen – in meiner Praxis höre ich den ganzen Tag Seelenqualen. Und wenn ein Patient meine Praxis verlässt, weiß ich nicht, ob ich ihm helfen konnte oder ob er sich aufhängt. Bei den Schafen arbeite ich mit den Händen, das bringt mich ins Gleichgewicht.«

Dieter Steves impft die Tiere, schließlich ist er Arzt. Er salzt Schaffelle ein, tropfnass liegen sie im Schup- pen hinter seinem Haus – auf Weihnachtsmärkten ist das ein ganz gutes Geschäft. Und er zerlegt die verkauften Schafe in küchenfertige Teile, in einem kleinen Kabuff neben den gesalzenen Fellen. Wenn die Knochensäge singt, ist Dieter Steves ganz bei sich, in gelben Gummistiefeln und roter Fleecejacke, mit Stumpen im Mund. Wie ein Anatom setzt er das Messer an den Schlachtkörper, mit ruhiger Hand trennt er Harnleiter und Lymphknoten ab, unter seinen geschickten Händen zerfällt das Schaf in Filet, Rücken, Kotelettstrang, Keulen, Nacken.

»Sehen Sie, wie schön sich die Fettschicht über dem Rücken geschlossen hat?« Ein fixer Schnitt und das Schwänzchen ist ab. »Für die Türken ist das gegrillt eine Delikatesse«, sagt Steves, »aber die Deutschen wissen damit wenig anzufangen. Ich lege es trotzdem bei. Dann kann jeder sehen, was er damit macht.« Was die Kunden mit den Haxen anstellen können, hat er ihnen schon erklärt. »In Scheiben geschnitten gibt das mit getrockneten Tomaten ein prima Osso buco. Und die Haxen binden die Sauce von selbst.«

Dieter Steves macht seine Arbeit, und die Arbeit stiftet Sinn. Steves spricht von Leidenschaft, vor allem beim Wursten und Räuchern. Das hat er von Edgar gelernt, einem Metzger aus der Gegend. »Die Herde wuchs, und aus den Alttieren muss man schließlich auch was machen«, sagt er.

In seinem Räucherofen aus Blech hängen Schinken, deren Geruch noch einen Tag später an den Händen haftet. Er verkauft ihn an Patienten und Kollegen, zum Beispiel auf Fortbildungen, aus dem Kofferraum seines Autos. Er experimentiert mit Salami, Bündnerfleisch, seine Bauernterrine hat es wirklich in sich. Demnächst will er sich an Zungenwurst wagen.

Schumacher und Steves stehen für das, was bedrohte Nutztiere neben dem Genuss spenden können. »Unsere Landschafe«, sagt Thomas Schumacher, »sind ein wichtiges Thema in unserem Leben. Und jeder Mensch braucht etwas, was ihm wichtig ist. Die Schafe sind ein Projekt, für das es sich zu leben lohnt.«

Rinder – Vom ganzen Tier zum ganzen Menschen

Markus Reinauers Geschichte mit dem Limpurger Weideochsen beginnt auf dem Railhof in Hohenlohe auf einer Anhöhe nahe Mulfingen. Sie beginnt mit dem Bauern Johannes Kruck, der in diesem Moment in seinem Wohnzimmer an einem hellen Holztisch sitzt. Ein kräftiger Mann von 48 Jahren im Ringelpullover mit runden roten Wangen, Schnauzbart und einer Stimme, die an den Satzenden abfällt, sodass die letzten Worte oft in seinem Inneren verschwinden. Während er spricht, kneten seine Finger beständig eine grüne Kaffeetasse. Johannes Kruck ist kein Mann großer Worte oder vor sich hergetragener Werte. Er sagt: »Wir hatten halt ’ne Weide, die musste kurz gehalten werden. Wir waren neugierig, ob das mit den Tieren klappt. Und wenn es einer bedrohten Rasse hilft, ist das auch ganz schön.«

Johannes Kruck zieht seit zehn Jahren Limpurger Rinder groß, die älteste Rinderrasse in Württemberg. Ein klassisches Dreinutzungsrind, braun bis gelb, ausgewachsene Bullen wiegen etwa eine Tonne. Bei 72 Züchtern stehen nur noch 450 Mutterkühe auf der Weide, weshalb sie die GEH als extrem gefährdet einstuft. Kruck braucht die Limpurger nicht, er lebt von Milch und Biogas.

Kruck hält auch Ochsen, drei Jahre lang lässt er sie vorm Schlachten auf seinen Wiesen grasen. Doch die Vermarktung dieser Tiere erwies sich als enorm schwierig. Der Bauer hatte sich von einem Gastronomen aus der Gegend zu den Limpurgern überreden lassen, doch bis vor vier Jahren schaffte der die Ochsen nicht weg. Auch interessierte Metzger sprangen immer wieder ab. »Ich wollte schon aufhören«, sagt Johannes Kruck. »Aber dann kam Markus Reinauer.«

Reinauer arbeitet im Tal, nur drei Kilometer entfernt, im Landgasthof Jagstmühle. Er kocht gehobene Landküche, regional, ohne Chichi. Als er von Krucks Problemen erfuhr, kannte er die Limpurger vom Sehen – Krucks Ochsen stehen auf der Weide nebenan. Ab und an hatte er »diesen schönen braunen Tieren« Wasser vorbeigebracht. Wie gut sie schmecken, ahnte Reinauer zu dieser Zeit noch nicht. Aber er wusste schon damals: »Gastronomie ist mehr als eine Flasche Rotwein aufmachen und die Karte aus Rewe und Deutscher See zusammenzustellen.«

Markus Reinauer, 37, kam aus dem Chiemgau in die Jagstmühle. An früheren Arbeitsplätzen hatte er erlebt, wie morgens 200 Gramm Kaviar aufgefahren wurde und später die Hälfte in den Mülleimer flog. Er hasste diese Dekadenz. In seiner neuen Heimat dagegen traf er auf »Individualisten, die sie selbst sind, die auch an sich zweifeln, und die vielleicht genau deshalb tolle Produkte herstellen. Leute, denen es um Kreaturen geht statt um Kreationen. Die Fischers zum Beispiel mit ihrem Schafskäse, der Schlauch mit seinem Holunder- sekt oder die Leute vom Brunnerhof mit dem Landgockel. Diese Leute haben mir die Augen für die Region geöffnet.«

Foto: Andrea Thode; Lizenzvereinbarung: Nutzung nur auf Effilee

Markus Reinauer denkt nicht an den Schutz bedrohter Tiere, als er Johannes Kruck seinen ersten Ochsen abkauft. »Der Johannes ist ein mutiger Mann«, sagt Reinauer heute. »Da gibt er sich Mühe und findet keinen Markt – das kann einfach nicht sein. Einer musste losschlachten.«

Das ist leicht gesagt, aber rechnet man solch einen Ochsen in Portionen um, merkt man, was für einen Brocken sich Markus Reinauer aufhalste. »Bei einem ganzen Ochsen kannst du nicht mehr in Filets und Rückensteaks denken, das sind nur fünf bis sechs Prozent des Tieres. Ein Ochse ist Masse. Er ergibt etwa 160 Rouladen, 80 Kilogramm Gulasch, 500 Flädlesuppen und 30 Rostbraten. Da macht man sich schon Sorgen, ob man das alles los wird.«

Weshalb er bei Bernd Zinsler anklopfte, seinem Metzger in Mulfingen. »Hilf mir, das Ding unter die Leute zu bringen«, sagte Reinauer, »und wir schauen, ob sich das rechnet.« Zinsler, 42, ist auch kein Freund großer Worte. Er sagt: »Ich kannte den Kruck, und ganze Viecher hatte ich schon vorher verarbeitet. Ein Koch alleine kann das nicht schaffen.

Also habe ich mir gesagt: Probieren wir es mal. Na ja, aber dann war ich doch ziemlich enttäuscht.« Sie wollten sich die Vermarktung teilen, doch Zinsler wurde das Limpurger Fleisch und die Wurst nicht los. Die Leute wussten nicht, was ein Ochse ist, und bei einem um 70 Prozent höheren Preis hielten sie sich zurück. Zudem war das Vieh zu mager. »Da fehlte die Marmorierung.« So blieb fast alles an Markus Reinauer hängen. Er brauchte beinahe ein halbes Jahr, um den Ochsen in seinem Restaurant zu verfüttern. Am Ende zahlen beide drauf.

Trotzdem kaufen sie den nächsten Ochsen. Gemeinsam überzeugen sie Johannes Kruck, dass er ihm in den Wochen vor der Schlachtung Getreide zufüttert, damit er Fett auf die Rippen bekommt. Reinauer, Zinsler und Kruck bilden ein Trio, das einander verspricht, sich nicht auf dem Ochsen sitzen zu lassen. So gewinnen sie Si- cherheit. »Und ich bekam Einfluss auf mein Fleisch«, sagt Markus Reinauer.

Zinsler stellt seinen Kühlraum zur Verfügung, Reinauer denkt sich Rezepte aus. Aus den Knochen kocht er Fonds, aus den Fonds entstehen Saucen. »Mit gutem Handwerk kriegt man alles weg.« Er setzt saure Kutteln mit Bratkartoffeln auf die Karte, bietet Siedfleisch mit Roter Bete, Zunge, »brutal gute« Rouladen an. Und: »Irgendwann war alles fort.« Für Markus Reinauer ist das sehr wichtig: »Ich bin Christ. Und wenn man Ehrfurcht vor der Schöpfung hat, kann man nicht einen halben Ochsen wegschmeißen.«

Auch Bernd Zinsler lernt, mit dem Ochsen umzugehen. Er liest über französische Zerlegeschnitte, um mehr Fleisch für das begehrte Kurzgebratene zu gewinnen. »Außerdem habe ich Verkaufen gelernt«, sagt er. »Ich habe den Leuten ins Gewissen geredet, dass sie mit dem Kauf Landschaft und Landwirte schützen. Ich habe ihnen auch erklärt, dass man einen Ochsen sieden muss, statt ihn sprudelnd zu kochen, dass er Zeit braucht.«

So findet Zinsler mit dem Limpurger Weideochsen schließlich doch eine Nische. Etwa zehn Familien kaufen bei ihm regelmäßig bis zu 15 Kilogramm schwere Fleischpakete – gut ein Drittel der Ochsen wandert heute über seine Theke. Jährlich schlachten sie nun drei Ochsen, und wenn man Reinauer und Zinsler fragt, ob sie noch immer draufzahlen, lachen sie nur.

Markus Reinauer sitzt nach Küchenschluss bei einem Glas Weißwein in der mit hellem Holz getäfelten Gaststube. Ein guter Abend sei es gewesen, bei insgesamt 50 Essen habe er sechs Burgunderbraten vom Limpurger Weideochsen unter die Leute gebracht, dessen Fleisch er als »körnig und zart, voller Butter-, Heu- und Grasaromen« beschreibt. Auch wenn Zinsler und Kruck nicht dabei sind, gehören sie in diesem stillen Moment dazu. »Wissen Sie«, sagt Reinauer, »ich fühle mich einfach wohl bei dem, was ich mache, in der Gemeinschaft. Es geht nicht nur um den Ochsen, es geht um die Menschen. Und wenn ich ehrlich bin, werden mir die Menschen immer wichtiger.«

Johannes Kruck ist seine Sorgen los, er vermarktet seine Weideochsen heute fast ausschließlich über den Koch und den Metzger. Bernd Zinsler ist mitt- lerweile Reinauers Fleischkümmerer, er sorgt selbstständig für Nachschub in dessen Küche und fertigt die Hausmacherwurst der Jagstmühle. Er hat noch mehr Freude an Qualität gefunden, er lässt Rostbraten wieder am Haken reifen und nicht mehr im Vakuumbeutel, weil das Aroma schlicht »der Hammer« ist. Und der Limpurger? Er lebt, weil er aufgegessen wird.

Zu den Rezepten

Maiale al Latte
Saag Gosht
Köstritzer Schwarzbierfleisch

Text: Christian Sywottek
Fotos: Andrea Thode
Rezepte: Vijay Sapre

aus Effilee #15, März/April 2011

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Aus Effilee #15, Mär/Apr 2011
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