Ich warte einige Minuten auf einer baumbeschatteten Bank, direkt gegenüber der Wohnung, in der Alexander Gold mit seiner Freundin Petra und der gemeinsamen Tochter Clara lebt. Es ist ruhig hier, eine Ladenbesitzerin trinkt aus einem Pappbecher Kaffee und unterhält sich mit einer Anwohnerin. Hamburg St. Georg ist wenig gentrifiziert, auch Touristen verschlägt es selten her. Doch das Viertel ändert sich, erzählt Alexander Gold, als wir seine Altbauwohnung betreten. »Die städtische Wohnungsbaugesellschaft verkauft nach und nach die Wohnungen in diesem Haus, wenn jemand auszieht. Das Klima ist seitdem spürbar rauer geworden. Die neuen Bewohner kommen mit den alten nicht besonders gut klar.« Wir setzen uns in die Küche.
Alexander kam vor 16 Jahren nach Hamburg. »Ich habe früher mit meinen Eltern in einem Vorort von Nürtingen gewohnt und wollte in einer größeren Stadt leben.« Bei Nürtingen fällt mir Harald Schmidt ein, wie bei Leimen Boris Becker oder bei Kerpen Michael Schumacher. »Ja, so weit ist es gekommen: nicht mehr Hölderlin, sondern Harald Schmidt.« Ich frage ihn, ob Stuttgart als größere Stadt nicht gereicht hätte. Alexander macht ein Geräusch, das ich als »Nein« interpretiere.
»Ich bin für meinen Zivildienst nach Hamburg gekommen. Dank der zentralen Studienplatzvergabe habe ich danach noch die Erfahrung machen dürfen, ein halbes Jahr in Stuttgart zu leben. Das war nicht so prall.« Nach den ersten beiden Semestern konnte er in Hamburg weiter Soziologie und Politik studieren. Seine damalige Freundin, mit der er den 12-jährigen Sohn Paul hat, lebte ebenfalls in Hamburg.
Alexander schneidet zwei Zwiebeln klein und dünstet sie mit einem Bund frisch geschnittener Petersilie in der Pfanne an. »Ich mache noch eine dritte Zwiebel ran, damit die Füllung nachher nicht nur Fleisch ist.« Die Umstellung von Nürtingen nach Hamburg hat ihm keine Schwierigkeiten gemacht. »Nur sprachlich war es eine Herausforderung. Die Leute reden hier anders, und der Humor ist auch ganz anders. Worüber wir zu Hause gelacht haben, das versteht hier niemand.« Er schneidet eine Handvoll Karotten der Länge nach in grobe Stücke und legt sie mit einer halbierten Zwiebel in einen Topf mit Wasser. »Das wird nachher die Brühe, in der die Maultaschen ziehen.« Er hackt eine Handvoll Petersilie, legt sie in den Topf und schaltet den Herd an.
»Wir sind jetzt an einem Schrebergarten beteiligt, da will ich nächstes Jahr Gemüse anpflanzen.« Er setzt sich kurz. »Eigentlich wollte ich bei dem schönen Wetter gestern in den Garten, aber ich musste die Musik für ein Kindertheaterstück fertigmachen.« Alexander komponiert die Musik für zwei Stücke eines Austauschprojekts zwischen Hamburg und Malmö: eine Aufführung von Die unendliche Geschichte und ein experimentelles Projekt.
»Ich könnte noch etwas Schnittlauch an die Füllung machen, aber dafür muss ich die Fensterbank abräumen.« In einem Balkonkasten vor dem Küchenfenster wachsen Thymian, Salbei und Schnittlauch. Alexander gibt ein Büschel ge- hackt in die Füllung. Das angedünstete Gemüse lässt er etwas abkühlen und mischt es dann mit Hack, Wurstbrät und zwei Eigelb - das Eiklar behält er zum Kleben der Taschen. »Das Würzen ist etwas schwierig, weil das Brät schon gewürzt ist.« Er streut Salz und Pfeffer über die Mischung und schneidet ein kleines Baguette in Würfel. »Normalerweise holt man trockenes Brot vom Bäcker, aber ich trockne das jetzt selber.« Er befördert die Brotwürfel in eine Pfanne.
In einer Schale mischt er Mehl mit vier Eiern, etwas Salz und Wasser. »Wirklich wenig Wasser, ein paar Esslöffel. In einem Rezept stand: drei halbe Eierschalen voll - das halte ich für zu viel. Der Teig soll recht fest sein.« Er knetet und prüft die Konsistenz. »Eigentlich würde ich jetzt die Nudelmaschine nehmen, aber die ist auf dem Dachboden verschollen.« Er knetet noch mal kräftig. »Daheim würde ich den Nudelteig beim Bäcker holen. Aber in Hamburg wüsste ich nicht, wo ich den kriegen sollte.«
»Hm, der Teig ist etwas weich, das war zu viel Wasser.« Alexander streicht mit der flachen Hand etwas Mehl über den ausgerollten Teig. Das Brot ist inzwischen trocken, Alexander streut es über die Füllung. »Ich habe letzte Woche auch Maultaschen gemacht, da war zu viel Fleisch drin, das war wie Frikadellen in Teig. Deshalb mache ich jetzt mehr Brot rein. Aber das kann jeder machen, wie er möchte.« Er schaut die Füllung an. »Etwas grüner könnte sie schon sein.« Er schneidet einen Bund Petersilie rein und knetet noch mal gut durch.
Dann schneidet er den ausgerollten Teig in knapp taschenbuchgroße Rechtecke und gibt auf jedes etwa ei- nen Esslöffel Füllung. Er streicht den Rand mit Eiweiß ein und klebt den Teig zu Taschen zusammen. »So sahen die bei meiner Oma auch aus. In Restaurants sind Maultaschen oft gerollt, da wird auf den Teig eine Lage Füllung gegeben und alles zusammengerollt.«
Er klebt Tasche um Tasche, wobei die eine oder andere reißt, was Alexander stoisch hinnimmt. »Das ist normal, wenn der Teig so dünn ist. Gut, wenn ich dreißig Stück gemacht habe und die immer noch reißen, dann werde ich unruhig.« Die Taschen haben einen recht breiten Teigrand. »Viele lassen weniger Rand dran, aber ich mag den Nudelteig total gerne.«
Alexander legt die ersten Maultaschen in den Topf. Für die nächste Ladung mischt er noch etwas Mehl in den Teig, bevor er ihn ausrollt. Jetzt geht es wie am Fließband. Wenn eine Portion fertig gegart ist, ist die nächste bereit. Er betrachtet die fertigen Nudeln auf dem Küchenbrett. »Die sehen immer ein bisschen wie ein Gehirn aus.« Mäusehirn im Teigmantel.
»Ihr könnt ruhig schon mal probieren, ich bin noch eine Weile beschäftigt.« Wir legen Maultaschen auf die Teller und schöpfen ein wenig Brühe darüber: die erste Maultasche meines Lebens. Wenn man, wie ich, an klaren Suppen besonders die Einlagen schätzt, sind Maultaschen ein großartiges Gericht: wie eine Suppe mit Fleischklößchen in Teig, nur dass die Gewichtung von der Suppe in Richtung Klöße verschoben ist. Maultaschen sind herzhaft und sicher auch nahrhaft, aber durch die klare Brühe bekommen sie eine Anmutung von Leichtigkeit, die hervorragend zu diesem klaren, warmen Frühherbsttag passt.
Wir werden wohl auf gut dreißig Maultaschen kommen. »Clara, meine Tochter liebt Maultaschen, die freut sich heute Abend.« Bevor Alexander die nächste Ladung fertig macht, gießt er etwas Wasser in den Topf. »Das soll immer knapp unter der Kochgrenze sein. Und die Brühe wird natürlich besser, um so mehr Maultaschen darin gekocht wurden.« Wir nehmen nach und fragen Alexander, ob er nicht auch etwas essen will. »Nee, ich mach erst fertig.«
Wir essen unsere zweite Portion und schauen dem Hausherren bei der Arbeit zu. »Angeblich hat man die Maultaschen als Karfreitagsessen erfunden, um das Fleisch zu verstecken. Deshalb tragen sie bei uns auch den Namen Herrgottsbescheißerle.« Dann hoffen wir, dass der Herrgott doch nicht alles sieht - sonst bleibt für die Schwaben wohl nur das Fegefeuer.
Fotos: Andrea Thode
aus Effilee #13, November/Dezember 2010
Ein Kommentar
Eventuell könnt ihr mir helfen !
eine Bkannte von mir wohnt seit vielen Jahren in Hamburg, nun hat sie mich angerufen, ob ich weis, wo sich Schwaben in Hamburg treffen, um schwäbisch zu schwätza. Es soll sich um einen Gruppe handeln, die sich regelmäßig trifft
Viele Grüße aus dem Schwábenland :Emil ´Moosmann (Fluorn-Winzeln-Krs. Rottweil)