In 80 Euro um die Welt

Schon seit Menschengedenken hat Europa den Rest der Welt kolonisiert. Und selbst heute existieren noch Kolonien. Aber am einfachsten kommt man an die Rohstoffe fremder Länder, indem man dem örtlichen Supermarkt einen Besuch abstattet

Was sind das: Kolonialwaren? Ich habe ewig gebraucht, das dänische Wort Kolonial – im Sinne von Lebensmittel – zu verstehen.
Heute kenne ich die Bedeutung. Dänemark war eine der großen Kolonialmächte. Spuren davon kann man auch heute noch in unseren Geschäften, Städten und Geschichtsbüchern finden. Zigarren und alles, was mit Tabak zu tun hatte, war in Dänemark eine wichtige Sache. Und Vanille. Und Schokolade aus Ghana – dort florierte übrigens auch unser gigantisch angelegter Sklavenhandel. Es gab quasi einen Dreieckshandel, denn neben Ghana – wo man immer noch die Burg Christiansborg besuchen kann – besaßen wir auch Kolonien in Westindien. Auf Saint Thomas und Saint Croix tragen einige Straßen auch jetzt noch dänische Namen. Und Grönland – die größte Insel der Welt – ist heute noch unter dänischer Herrschaft.

Kolonien hat es schon immer gegeben. In der Antike war Marseille eine griechische Kolonie. Die Normandie in Frankreich hat ihren Namen von den Wikingern bekommen, die die gesamte Gegend kolonisiert und von dort Wein, dunkelhaarige Frauen und andere Kolonialwaren importiert haben. Und Köln war früher eine römische Kolonie. Der Name Köln kommt auch tatsächlich vom lateinischen Wort colonia, das übersetzt Kolonie bedeutet. Im englischen Namen Cologne, kann man das noch deutlicher sehen. Bis vor Kurzem waren noch sehr viele Länder oder Regionen im Kolonialbesitz von anderen Ländern. Alaska war zum Beispiel eine russische Kolonie, bis sie 1867 an die Vereinigten Staaten von Amerika verkauft und 1959 zum 49. Staat ernannt wurde. Australien war eine britische Strafkolonie, seit Teile der Ostküste von Leutnant James Cook in Anspruch genommen wurden. Portugal besaß Macau, gegenüber von Hongkong – was seinerseits denBriten gehörte. Die Liste lässt sich endlos fortsetzen.

Brasilien war portugiesisch. Kanada war französisch, dann britisch. Die Philippinen waren spanisch, bis die USA übernommen haben. Die USA waren ursprünglich selbst in dreizehn klar voneinander getrennte englische Kolonien in British America unterteilt. Und – als Teil ihrer Raumfahrtprogramme – hegen viele Nationen den Wunsch, den Weltraum zu kolonisieren. Bislang haben wir dort noch keine echten Kolonien, aber der Mond, der Mars, diverse Asteroiden und sogar frei schwebende Kapseln mit genügend Platz für menschliches Leben sind schon ernsthaft in Betracht gezogen worden.
Wenn Sie nicht gerade nach Französisch-Polynesien oder in eine der anderen noch existierenden Kolonien reisen wollen, dann besuchen Sie am besten Ihren örtlichen Supermarkt. Über das Essen können Sie dort den ganzen Planeten in nur einer Stunde erkunden. Das kann Erinnerungen an frühere Reisen hervorrufen. Oder aber zu neuen Reisen anregen. Oder Sie können sich auf einen entspannten Trip zum Mars begeben – indem Sie sich den Schokoladenriegel kaufen, den Forrest Mars 1932 erfunden hat. Der wird immer noch im drittgrößten Privatunternehmen in Amerikas allererstem Staat produziert: Die Kolonie Virginia – die erste der britischen Kolonien in Amerika – wurde später zu den Vereinigten Staaten von Virginia, was sich dann wiederum in die USA, wie wir sie heute kennen, entwickelte.
Oder Sie gehen die Sache gleich richtig an. So wie ich: Ich habe heute die ganze Welt in nur 80 Euro bereist und dabei bin ich lediglich ganz langsam ein paar Hundert Meter durch meinen örtlichen Supermarkt gegangen.
Haben Sie eine Stoppuhr, oder wichtiger noch, einen Taschenrechner parat? Vielleicht können wir es einfach Phileas Fogg aus Jules Vernes Roman Le tour du monde en quatre-vingts jours (In 80 Tagen um die Welt) von 1873 gleichtun. Fogg begibt sich darin von seiner Junggesellenbude in der 7 Saville Row, London, auf eine zweieinhalb Monate lange Reise um die ganze Welt, um am Ende eine Summe, die heute etwa anderthalb Millionen Euro entsprechen würde, zu gewinnen.
Mein örtlicher Supermarkt heißt Irma. Nicht etwa, weil er aus Deutschland oder Österreich importiert wurde, sondern weil das Akronym JRMA diesem Name ähnelte. Das Logo – ein Mädchen, das wie Heidi aussieht – kam erst später dazu. Nicht viele Deutsche wissen das heute noch, aber früher war Irma eine so große Ladenkette, dass es auch Filialen in Hamburg, Kiel und Flensburg gab. Und das war zu Zeiten, als Norddeutschland keine dänische Kolonie war. Interessanterweise ist Irma die zweitälteste Supermarktkette der Welt. Nur Sainsbury’s in Großbritannien ist älter. Also hat Irma natürlich alles.

Ich beginne meinen Einkauf in der Gemüseabteilung. Die Zwiebeln und Kartoffeln und so kommen natürlich aus Dänemark. Erst später, als ich noch mal darüber nachdenke, fällt mir ein, dass Kartoffeln ja ursprünglich aus Peru stammen. Ich entscheide mich für eine Mango aus Peru – von eben den Spaniern importiert, die das Land vor vielen Jahren kolonisiert haben. Ich nehme auch eine Ananas aus Costa Rica mit.
In meiner Kindheit war Datteln ein abfälliges Wort für Immigranten. Später wurde das Wort dann auch als Synonym für Geld benutzt. »Hast du heut schon ’n paar Datteln verdient?« Ich persönlich assoziiere Datteln immer mit Weihnachten. Und da die Weihnachtszeit naht und wir den Geburtstag eines wichtigen Mannes aus dem Nahen Osten feiern, werde ich ein bisschen sentimental und ich greife zu einer Packung iranischer Datteln. Es muss mein Glückstag sein: Als ich die Schachtel öffne, finde ich einen Aufkleber, der mir versichert, dass die Datteln »bester Qualität« sind.
In Skandinavien importieren wir auch viele Güter aus Europa. Und nicht nur das, wir importieren auch Menschen. Dänische Bauern importieren Arbeiter aus Lettland, Estland und Litauen, die die anstrengenden und zeitaufwendigen Jobs erledigen, die die Dänen nicht mehr machen wollen. Aber in den ehemaligen Ostblockstaaten scheint Geld noch einen anderen Wert zu haben. Also grinse ich zufrieden, als ich meine litauischen Pilze – bestimmt sorgfältig handverlesen – einpacke.
Die Blaubeeren in dem sündhaft teuren Saft, den ich in meinen Wagen stelle, sollen ebenfalls exquisit sein. Fast 10 Euro kosten mich die gepressten schweizerischen Früchte. Es wird als medizinisches Produkt verkauft, und auf der Flasche steht, dass ich einen Deziliter vor jeder Mahlzeit trinken soll. Früher war es noch ein Löffel amerikanisches Öl vorm Frühstück – zumindest in den Donald-Duck-Cartoons, die ich als Kind gern gesehen habe. Die amerikanischen Waren bekommen in meinem Wagen ihre eigene kleine Ecke. Und der Berg wächst.
Rosinen aus Kalifornien. Die Dame auf der Verpackung ist noch immer dieselbe wie schon zu meiner Kindheit, was mich an die kleinen Schachteln mit Vanillezucker denken lässt. Ein afrikanisches Mädchen, das dem Ganzen einen exotischen Anstrich geben sollte, war da vorne aufgedruckt. Das Bild war so unverkennbar, dass der dänische Autor Ib Michael einen Roman mit dem Titel Das Vanillemädchen verfasst hat, worin er ihr ein ganzes Leben zusammenspinnt. Ich habe kürzlich gehört, dass es eine weitere schwarze Schönheit – das Mädchen vom Cirkel-Kaffee vom dänischen Supermarkt Brugsen – wirklich gegeben hat. Das Bild, das auch heute noch die Kaffeepackungen ziert, wurde von einem Künstler gemalt, der einmal einen dänischen Matrosen in einer Bar in Kopenhagen getroffen hat. Dieser Matrose hatte eine Frau aus Afrika. Und die beiden Männer haben vereinbart, dass diese Frau als Kaffeemädchen Modell stehen sollte.
Ich entdecke ein weiteres Teil vom nordamerikanischen Kontinent, aus Kanada: Ahornsirup. Der Klassiker. Ich finde eine Bio-Version und komme darüber ins Grübeln, ob die anderen nicht eigentlich auch sowieso bio sind? Wachsen Ahornbäume nicht wild? Als Nächstes greife ich zum Corona-Bier, das eine Art Doppel-Import-Export-Geschichte hat. Zunächst haben die spanischen Conquistadores das Christentum und den Glauben an Jesus Christus nach Mexiko und Lateinamerika exportiert. Dann haben die Mexikaner ihr Bier nach dem Heiligenschein über Jesus’ Kopf benannt. Corona heißt Krone oder Heiligenschein. Und dann haben sie es zurück nach Europa exportiert – mit riesigem Erfolg.
Einen Gang weiter entdecke ich ein amerikanisches Retro-Souvenir. Oder wie nennt man das, wenn man etwas findet, das einen an einen ganz bestimmten Ort zurückversetzt? Ich habe vor langer Zeit einmal Avery Island in Louisiana, USA, besucht. Dort machen sie die echte Tabascosauce. Ich kann mich noch genau an den schwül-heißen Sommer erinnern. Nachts haben die Zikaden gezirpt, und ich bin in der extremen Luftfeuchtigkeit fast umgekommen. Die eigentliche Tabascopflanze birgt ein wahres Wunder – die grüne Tabascosauce. Sie ist viel milder und viel, viel aromatischer als die rote. Auf der Scoville-Skala erreicht die normale rote Tabascosauce 2500 bis 5000. Die grüne Sauce misst einen Wert von 600 bis 800. Wer einen echten Kick braucht, muss eine Flasche Habanero-Tabasco trinken. 12 000 auf der Scoville-Skala. Das ist also nur etwas für Verrückte. Im Irma gibt es nur die rote Ausgabe, und das ist auch okay. Das erinnert mich daran, dass ich bald einen riesigen Topf Chili kochen muss. Oder Chile. Oder Chilli. In Amerika gibt es keine offizielle Schreibweise, da das Land so ein unglaublicher Schmelztiegel der Kulturen ist. Eine alleingültige Schreibweise würde nur all
die anderen Minderheiten beleidigen. Aber ich kenne die Chili-Geschichte, und ich weiß, dass es in Wahrheit kein mexikanisches Gericht ist. Es ist amerikanisch – und
man braucht dafür Tabasco. Ganz viel.

Text & Foto: Kristian Ditlev Jensen
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Aus Effilee #23, Winter 2012
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