Wolfram Siebeck – ein Fürst in keinem Reich

Seit mehreren Jahrzehnten versucht sich der Autor, Humorist, Bonvivant und Grandseigneur reisend, kochend und schreibend an der kulinarischen Aufpäppelung Deutschlands. Thomas Platt hatte ihn kurz vor seinem Tode noch besucht.

Die meisten südbadischen Mädchen lächeln. Die junge Ladentochter im Verkaufsraum der Bäckerei Friedrich in Mahlberg macht keine Ausnahme. Aufgeregtheit und der Versuch, sie zu unterdrücken, röten ihre Wangen. Ein Mann von auswärts, der eben vom Schloss herabgekommen ist, hat ein Lob von dorther überbracht. Es gilt dem Haselnuss-Hefezopf, der am Morgen geholt wurde. Augenscheinlich verstünde man hier sein Handwerk. Selbstverständlich sei das nicht.
Das Leben von Wolfram Siebeck, der auf Burg Mahlberg logiert, erzählt davon, dass selbst so etwas Frugales wie ein ordentlicher Hefekuchen meilenweit entfernt ist vom Selbstverständlichen in unserem Land. Heute kaum weniger als früher.

Fast scheint es, als hätte sich hier dicht an der A5 mehr vom Früher erhalten, als das in einer gut beschäftigten Region wie die um Freiburg zu erwarten wäre. Von ganz früher natürlich, als die Ordnung eine des Schwertes war und insgesamt viel kleiner und kleinkarierter. Dunnemals thronte oben auf der Burg, die man eben Burg nannte und nicht nebenher noch Schloss, ein Burgherr, und zu seinen Füßen lagen die Gewerke, in denen das Gesinde wob und spann. Unten raunten und tuschelten die Hintersassen gewiss gehörig über die da oben – und das tut man offensichtlich heute noch, obwohl alle Burgherren längst verblichen sind. Es ist ja ein Herr wieder da, Gesprächsstoff nicht nur in der Bäckerei. Sein Name bedeutet mehr als ein Adelstitel: Wolfram Siebeck. Autor, Humorist, Bonvivant. Wenn ich jetzt Grandseigneur hinzufügte, würde es die Gegenwart besser treffen. Aber das Mädchen könnte vielleicht ihr Lächeln verlieren, weil’s halt so hochgestochen klingt.

Wir sind gegen Zwölf verabredet. Allerdings nicht zum Mittagessen, denn das fällt heute aus. Aber da wir endlich einmal über Essen sprechen wollen, wird so die Verdoppelung vermieden. Die Gespräche davor, zu denen wir seit Mitte der Achtzigerjahre gelegentlich kamen, drehten sich fast durchweg um Literatur, englische zuerst, und da ging es dann hauptsächlich um Evelyn Waugh, Ford Madox Ford und P. G. Wodehouse. Ich erinnere mich noch gut an Siebecks aufgeblendeten Blick, als er mir At War with Waugh von W. F. Deedes empfahl. Seither gehört es zu meinen Lebensbüchern.

Hügelan verlasse ich mit meinem Hund gleich hinter der Kirche das Dorf Mahlberg, in dem sich nach Sonnenuntergang Fachwerk und Glasbaustein gute Nacht sagen, und durchschreite den Söller. Es bedarf keiner Anstrengung, um zum Herrschaftlichen hinaufzuklimmen, vorbei an Kasematten und Deputatshäuschen, aber es ist merklich ein anderes Klima, in dem wir uns bewegen. Es pendelt zwischen Gärtnerisch und Gravitätisch, ein Anflug von Brunnenschacht und Gruft ist auch dabei. Emmas Nase findet nun reichliche Beschäftigung. Ihr gefällt der lokale Hautgout. Die Wohnung der Siebecks liegt im ältesten Teil der Anlage, der heute wie ein mit geringem Ehrgeiz errichteter Seitenflügel des vom Barocken berührten Hauptbaus aus dem 18. Jahrhundert ausschaut. Die Hausherrin empfängt uns im Flur, der von einem reglosen Hund bewacht wird. Seine Silhouette wurde aus Blech geschneidert und zu seinen Füßen ein DOGS WELCOME! ins lackierte Metall geprägt. Wo Felltiere willkommen sind, das spürt man gleich, wird auch ein Mensch aufs Herzlichste begrüßt.

Barbara Siebeck ist nicht nur Begleiterin und Beraterin seit weit über vierzig Jahren, sondern eine stupende Schöpferin von Ambiente und Atmosphäre. Sie kann sich mit und in ihnen metaphorisch ausdrücken wie ihr Mann auf dem Wortgebiet. Ähnlich wie die genossenen Aromen und Düfte, die in seinen Texten wieder lebendig werden, dringt auch ein Parfumhauch gute Stube durch zum Leser. Womöglich, fällt mir auf, als wir zum ersten Mal im Arbeitszimmer vor der dunkelroten Wand Platz genommen haben, sollte man gerade Siebecks so typische, so typisch nonchalante Ironie, die seine Strenge mildert und seine Faibles ein wenig zum Schaukeln bringt, auch auf dieses Flair zurückführen. Schließlich sind unzählige Texte hier entstanden. Frau Siebeck hat dem schwermütigen Gemäuer aus dem späten Mittelalter eine gründliche Kur verpasst. Ihr glückt, was bei bildungsbeflissenen Gymnasiallehrern pünktlich in die Grütze geht: dass eine Gründerzeitkommode neben einem Corbusier-Sessel steht, als ob nix wär. In keinem Moment läuft die Fülle der Details ihrer Wirkung zuwider – durchaus eine Parallele zu einer gelungenen kulinarischen Komposition mit all ihren Nuancen und Schattierungen.
In Wahrheit bildet diese Wohnung aus Wohnungen ab, was die beiden doch so häufig Reisenden in der Welt erfahren haben. Erinnerungsorte verspielen sich im Widerschein von hellen Farben, die Werke von Künstlerfreunden fallen aus dem Rahmen und gleich, wenn die Gardinen zu wehen beginnen, scheint es nicht mehr ausgeschlossen, dass ein Lavendelfeld hereinschaut. Die Innengestaltung befragt gleichsam ihren Gegenstand. Sie reicht von der britisch anmutenden Bibliothek, in deren Ohrensessel der Autor seine ZEIT studiert wie einen Klassiker, über die pragmatische, technisch-professionelle Verwaistheit der Küche und den großen Speisesaal mit den Bogenfenstern, die adlige Struktur des Ansitzes vertretend, bis zum von verwitterten schwarzen Balken rhythmisierten Flur. Dort an der Garderobe über dem Spazierstock hängt Siebecks sonnengedörrter Panamahut. Er wirkt als Insignie eines Menschen, der seinem Land das unverhoffte Geschenk eines folgenreiches Werkes gemacht hat. Dies gelang nur, weil er dessen (und seine eigenen) Grenzen unablässig überschritt.

Wolfram Siebeck, Thomas Platt, Sascha Henn
Wolfram Siebeck, Thomas Platt, Sascha Henn

Begonnen hat es in Südfrankreich. In den Restaurants der Côte d’Azur lernte er in den Sechzigerjahren einen Wohlgeschmack kennen, den ihm seine Heimat versagt hatte. Siebeck arbeitete damals als Filmkritiker, bevor sich das Thema Essen – zunächst eher beiläufig – in den Vordergrund schob. Zu Tisch gebeten und bei Laune gehalten von einer glamourösen Industrie mit kurzen Auswertungsspannen kam er mit einer Gourmetliga in Berührung, in die es einen einfachen Feuilletonisten aus Deutschland nur äußerst selten verschlagen haben dürfte. Auf die Frage, ob Restaurantkritiker außerhalb von Restaurantkritikerrestaurants wie dem dänischen Noma überhaupt zur Zielgruppe von Gourmetlokalen gehörten, die gewöhnlich von einer wertvollen Gesellschaft aus Industriellenwitwen, Patentanwälten, Filmproduzenten und betuchten Sportköchen frequentiert wird, antwortet Siebeck auf seine entwaffnende Art: »Wir gehören da nicht dazu und könnten uns das alles nicht leisten – wenn wir nicht furchtbare Schnorrer wären.« An der Küste und in der Provence, in die das Paar immer wieder zurückkehren sollte, bildeten sich Kriterien und eben auch Vorlieben – vor allem die für Innereien. Sie treibt den nun Siebenundachtzigjährigen auch heute noch im biblischen Alter nach Frankreich, ins nahe Straßburg: »Dort können sie Innereien, vor allem aber in den Bistrots von Lyon und Paris.«
Dagegen die Küche seiner unmittelbaren Umgebung findet er »zum Kotzen«. Es sei nirgends der Ehrgeiz zu spüren, die eingefahrenen Bahnen zu verlassen, weder auf Seiten der Wirte noch der Gäste. »In Mahlberg haben wir seit zehn Jahren eine schöne Kneipe, die leer steht, weil sich keiner dafür interessiert.« Im Grunde jedoch beschränkt sich dieses Urteil keineswegs nur auf die Ortenau, sondern beansprucht Geltung ganz allgemein für so unendlich vieles, was deutschen Herden entspringt. »Die Leute sind grässliche Esser, sie mögen partout nichts Neues, schon gar nichts Avantgardistisches.« Siebecks Verdikt bekommt einen schmerzlichen, ja resignativen Unterton, wenn er aus der Tiefe des Sofas auftaucht und den Körper kurz strafft: »Die Leute sagen, es hat immer bei der Oma geschmeckt, so kann es weiter bleiben. Mit dieser Ansicht haben wir das Essen grundsätzlich ruiniert.« An diesem Punkt sollte man sich noch einmal vor Augen führen, was für eine Autorität da spricht. Es handelt sich nicht allein um den ersten Vorkoster der Nation und Kritiker par excellence, sondern auch um den Weltverbesserer Siebeck mit einer, sollte man zumindest denken, durchaus erreichbaren Vision: dem Aufbau einer deutschen Küchen- und Tafelkultur, die diesem Begriff in der Spitze genauso gerecht wird wie in der Breite. Kaum einer weiß ja besser als er, dass sich erquickliche Küche nicht in der Sperrzone der Gourmetrestaurants erschöpft. Es scheint mir, dass mein großer Kollege immer noch ein wenig erstaunt darüber ist, wie sehr er bloß das Beharrungsvermögen von Mampf und Pampf hierzulande hat unterschätzen können. In manchen Momenten erweckt Siebeck gar den Eindruck, als dächte er, sein ganzer, Jahrzehnte währender Einsatz für die kulinarische Aufpäppelung der Deutschen sei verlorene Liebesmüh gewesen. Als könnten die Zeitgenossen einen Riesling immer noch nicht recht von einem Kandinsky unterscheiden. Da bekommt seine ohnehin schon leise Stimme etwas Tonloses. »Ich habe keine Lust mehr, über Essen zu schreiben«, sagt er und legt die Hände auf den Tisch, als würde er Messer und Gabel beiseitelegen, »schreiben aber schon.«

Einer, der sich nicht nur mit vehementen wie stilsicheren, immer auch aneckenden Essays, sondern auch mit praktischer Lebenshilfe, vor allem in Dutzenden von Kochbüchern sowie TV-Sendungen, sein Wissen ausgebreitet und für seine Ziele geworben hat, sah sich ohnehin rasch dem Vorwurf ausgesetzt, elitär oder überheblich zu sein. Arroganz genießt in Deutschland allemal einen übleren Ruf als zum Beispiel die Ignoranz, ganz einfach, weil sich die Enge des Gesichtskreises, die seelische Abgeschlossenheit und geistige Schwerbeweglichkeit von ihr aufgestöbert und angegriffen fühlen. Zur Irritation trug stets bei, dass Siebecks Speiseschriftstellerei etwas über die Wiedergabe von Gaumenfreuden weit Hinausgreifendes entfaltet, nämlich, um es mit den Worten des Wiener Kulturschriftstellers Egon Friedell zu sagen, »jene aromatische, berauschende, verwirrende Wirkung, die die Poesie immer und die Wirklichkeit nie hat«. Dieses Grunderlebnis des Schriftstellers unterscheidet auch den Siebeck des Herdes, der etwa die geliebten Nierchen zubereitet, von hoch geschätzten Weggefährten wie Paul Haeberlin, Eckart Witzigmann und Dieter Müller, den er einen »großen Erfinder« nennt.
Drei große Epochen der Nachkriegsküche hat er intensiv erlebt und journalistisch begleitet. »Da war ein Bedarf in den Medien, daraus erklärt sich alles. Ich war sehr belastbar in dieser Zeit«, erinnert er sich und kein Veteranenstolz schwingt da mit. Ich kitzle seinen Humor, als ich die Dekaden auf den Namen ihrer beherrschenden Desserts taufe: Mousse au Chocolat die Siebziger, dann zehn Jahre Tiramisu und seit Mauerfall regiert die Crème brûlée. Dass ausgerechnet sie, quasi das Wiener Schnitzel der Patisserie, nicht vergehen will, besitzt auch für ihn etwas Bezeichnendes. Die Gilde der bierernsten Feinschmecker hätte für so eine Periodisierung nicht das geringste Verständnis und die »Weinfreaks« erst recht nicht. »Die haben überhaupt keinen Humor. Die lachen viel, – wenn sie besoffen sind.«

Zur gegenwärtigen Hochgastronomie existiert eine Beziehung, die man wohl am besten als gespaltenes Verhältnis beschreibt. Die letzten Besuche spiegeln das. Von Peter Hagen, dem Chef des Ammolite im Europapark Rust, ist er angetan, weil er der angestrebten Perfektion genügt, ohne auf übertriebene Mittel zurückzugreifen. »Der ist auf bestem Wege, sich einen dritten Stern zuzulegen.« Ebenfalls viel Anerkennung zollt Siebeck einem, der den dritten Stern schon hat. Joachim Wissler, immerhin Klassenprimus der nationalen Gourmetgastronomie, bezeichnet er als »hochbegabten Koch«. Aber dann fügt er noch einen Satz an, der härter klingt, als er vielleicht gemeint ist: »Er existiert im Mainstream wunderbar. Ich sehe ihn aber nicht als den berühmtesten und besten an.«

Siebeck nimmt nicht viel Rücksicht auf aktuelle Werthierarchien. Keineswegs gleichgültig jedoch ist ihm, welche Personen, Interessen und Strategien zusammenwirken, damit sie zustande kommen. Daran orientiert sich sein Begriff von Mainstream eher, als an mehrheitsfähigen, bürgerlich-sittlichen Kochleistungen. Mitunter stört ihn eine gewisse Kälte, die den wie am Reißbrett entworfenen und mit einem Aromabaukasten zusammengesetzten Menüs der Spitzenklasse zuweilen entströmt. Überdies scheint Siebeck kein Freund des großen inszenatorischen Aufwands, des ständigen Personalbetriebs zwischen den Tischen zu sein, die manche Restaurants in regelrechte Geltungsbedürfnisanstalten verwandelt. Er wird wieder zum Kind seiner Zeit, wenn er zurücksieht auf den Hedonismus des Aufbruchs und »die Hoffnung, dass er sich überall verwirklichen ließe, was sich dann als Irrtum herausgestellt hat«. Längst sitzen wir auf dem Altan, der aus der Wehranlage hervorspringt und die Abendsonne einfängt. Das Gefühl absoluten Wohlbefindens breitet sich aus. Man möchte diese Terrasse nie mehr verlassen. Aber die Uhr hat geschlagen, und die Bäckerei drunten schließt gleich.

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  1. Ein um ein Vielfaches besseres Nachwort als das im Magazin der ZEIT, möge der Gute sie auch wie einen Klassiker behandelt haben. Hier – und vermutlich nicht nur hier – hat es die Effilee besser gemacht.

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